Blick auf Arles

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Wie eine Herde Schafe sind wir hinter unserer Kunstlehrerin in die Neue Pinakothek getrottet, die Staffelei unterm Arm, Acrylfarben und Pinsel in der Leinentasche über der Schulter. Projektwoche vor den Sommerferien, wie immer. Der Leistungskurs Kunst muss natürlich ins Museum. Und das bei dem super Wetter.

Vorbereiten mussten wir uns natürlich auch noch. Maler auswählen, ausführliches Referat, dann ein Bild aussuchen. Die Heinrichs hat Dutzende von schlechten Kopien auf den Tisch gelegt. Ich habe in der Stunde gefehlt, und so ist für mich nur Van Gogh übriggeblieben. Ein total dunkles und depressives Bild mit dem Titel «Blick auf Arles». Und nun sollen wir das Original kopieren.

Sebastian ist mit dem Sport LK am Starnberger See. Surf-Kurs. Ich hätte auch mal lieber Sport wählen sollen, die kriegen ihr Abi doch hinterhergeworfen und haben dazu noch eine ganze Menge Spaß. Wenn Sebo zurückkommt, hat er sich bestimmt in eine dieser Sport-Tussen verliebt, eine mit langen Beinen und kleinem Busen. Die Conny ist doch ganz scharf auf ihn. Das sieht doch jeder.

Hej, ist das wirklich das richtige Bild? Das gibt es doch nicht! Arles im Frühjahr, gemalt in hellen, leuchtenden Farben. Boah, sieht das schön aus. Staffelei aufstellen, die Landwand aufziehen.Pinsel und Farben sortieren.

Natürlich fange ich mit dem Hintergrund an. Das haben wir bei der Heinrichs gelernt. Bildaufbau, von hinten nach vorn. Ahnung hat sie ja, das muss man ihr lassen. Sie wäre wahrscheinlich auch lieber Künstlerin geworden, statt Schülern das Malen beizubringen, die nur daran interessiert sind, möglichst ohne Anstrengung an ihre Punkte zu kommen. Hellblau brauche ich und Weiß für den Himmel. Halt, kein Deckweiß. Ich lasse das Weiß der Leinwand durchschimmern durch das zarte verwischte Blau. Ob der Himmel über dem Starnberger See jetzt auch so aussieht? Wird den Sportlern nicht auffallen. Sebo hat doch sowieso nur einen Blick für sein Board und die Wellen. Und für die Bikini-Mädchen natürlich.

Der hohe Turm im Hintergrund ist auch blau. Scheint wohl eine von Van Goghs Lieblingsfarben gewesen zu sein. Blau und Grün und Lila in allen Schattierungen. Allein das Licht, das über Arles liegt, wie hat er das nur hingekriegt? Würde ich mir gerne mal live ansehen. Eine Reise nach dem Abi, mit Sebo. Quatsch, jetzt spinne ich. Sebo will bestimmt ans Meer. Kiten.

Van Gogh war da anders. Der ist extra nach Südfrankreich gezogen wegen des Lichts. Und um das Paradies zu suchen. So ähnlich wie Gauguin in der Südsee. Ja, richtig, Gauguin, den hat er hergelockt. Wollte mit ihm eine Künstlerkolonie aufbauen. Hat wohl nicht geklappt. Die waren wohl beide ziemlich durch den Wind, haben sich gestritten und gestritten. Und ob sich Van Gogh selbst ein Ohr abgeschnitten hat oder ob es doch Gauguin war, wird wohl ewig ungeklärt bleiben.

Bei den weißen kleinen Häusern mit den roten Dächern muss ich aber aufpassen. Ganz zart die Farben mit einem kleineren Pinsel auftragen.

Das gelbe Haus weiter vorne ist schon deutlicher zu sehen. Ein solch leuchtend gelbes Haus soll Van Gogh ja in Arles gemietet haben.Vorne heraus der Blick in die Obstgärten, nach hinten die rotgedeckten Häuser der Stadt mit dem hohen Turm als Wahrzeichen. Muss doch schlimm gewesen sein für den armen Vincent, dass keine Frau mit ihm leben wollte. So hässlich war er doch auch wieder nicht. Obwohl, Angst konnte man schon vor ihm kriegen, wenn man sich die Selbstbildnisse ansieht. Ein bisschen gruselig. Vielleicht wäre er dann nicht so durchgeknallt, mit einer netten Frau.

Den meisten Raum nimmt der blühende Obstgarten ein. Hier sind die Pinselstriche schon ein wenig gröber, die Farben klarer. Die Luft scheint kühler, schwirrt nicht mehr so wie über der Stadt. Endlose Reihen von Obstbäumen. Das Bild kriege ich heute nie fertig. Zum Glück sind keine Menschen auf dem Bild. Nur der dunkle kleine Mann, der in der Erde hackt. Einsam und allein. Menschen zu malen, fällt mir schwer. Damit hatte Gauguin wohl eher kein Problem, wenn man sich die braunen Tahiti-Mädchen auf seinen Südsee-Bildern anguckt. Wie die sich räkeln. Geschwängert hat er wohl auch einige dieser Lolitas, wie man so liest.

Nee halt, eine Frau wollte auch den rothaarigen Vincent. Eine schwangere Prostituierte, aber da hat seine Familie am Rad gedreht. Sogar der liebe Bruder Theo war indigniert, hat die Gelder gestrichen. War überhaupt ein komisches Verhältnis zwischen den beiden. Der verrückte Maler, der malt und malt, dann sein Bruder, der Kunsthändler, der in der ganzen Zeit nur ein Bild verkauft, ihn aber monatlich unterstützt.

Der Garten ist wunderschön. Dabei hätte ich sogar verstanden, wenn der Van Gogh den Ausblick von seinem Fenster in dunkle Schatten taucht. Immerhin war er weggesperrt in der Nervenheilanstalt. Wegen der Anfälle, die sich häuften, und der Beschwerden der Dorfbewohner, die Angst vor ihm hatten.

Und dann schaut dieser Verrückte aus seiner Zelle und malt die Landschaft in hellen, bunten Farben. Gut, die drei Bäume im Vordergrund mit ihren eher dunklen blau-violetten Stämmen sehen bedrohlich aus, wie Gitter vor dem Fenster. Daran ändern auch die orangefarbenen Triebe nichts. Breite Pinselstriche, unvermischte Farben, manchmal direkt aus der Tube. Das muss ich mal probieren, ob das mit Acryl auch geht. Ölfarben hat man uns hier nicht erlaubt. Die haben wahrscheinlich Angst, dass wir zu viel rumsauen. Und der Geruch würde ja auch die andern Besucher abschrecken. Dabei ist hier sowieso kein Mensch. Wer ist denn schon so krank im Hirn, dass er an einem heißen Vormittag im Hochsommer ins Museum geht?

Auch der Wassergraben vor dem Fenster wirkt wie eine Sperre zur Außenwelt, aber im Wasser spiegeln sich schon die bunten Farben der Frühlingswiese: weiß, rot, grün, blau, gelb, rosa, orange.

Wahrscheinlich hat sich der Maler genauso nach draußen gesehnt wie ich jetzt. Dass den aber auch keiner mochte! Wahrscheinlich hat er sich deswegen auch die Kugel gegeben. Nur ein Jahr später, in St.Rémy, nachdem auch die Tochter seines Nervenarztes ihn hat abblitzen lassen.

Von wegen abblitzen lassen: Soll der Sebo doch abhauen, wenn ihm die Sport-Tussen besser gefallen. Ich komm schon drüber weg. Blödmann. Es gibt auch noch andere Jungs. Der Lennart schaut auch schon die ganze Zeit herüber. Sieht doch süß aus. Und Karikaturen kann der zeichnen wie ein Profi. Als der neulich unseren Mathe-Pauker …

Was, Frau Heinrichs? Danke, Frau Heinrichs. Den Pinsel noch kräftiger aufdrücken? Ja, ich versuche es. Ja, es macht mir Spaß.


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One Response to “Blick auf Arles”

  1. Gravatar of ingrid würtz ingrid würtz
    17. Dezember 2012 at 19:28

    Mir gefällt die Verquickung der spannenden persönlichen Geschichte und der Informationen über das Malen. Ich finde auch , dass die biografischen Daten über Van Gogh geschickt eingebaut wurden. Ebenso wirklichkeitsnah erscheint mir der Ton einer Jugendlichen.

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