Unsichtbares Theater
Ich schiebe mich durch die sich automatisch öffnende Glastür des Kaufhauses und stelle erst einmal die beiden Einkaufsbeutel ab, um die Kapuze meines Anoraks überzustülpen. Der Wind weht böig an diesem grauen Novembernachmittag und treibt Blätter und Papierfetzen durch die Fußgängerzone. Eigentlich wollte ich an diesem Nachmittag doch nur kurz durch Karstadt laufen, mich aufwärmen und eine Tasse Kaffee trinken. Aber dann hat mich doch die Lebensmittelabteilung gelockt und ich habe der Versuchung nachgegeben und reichlich eingekauft. Und nun muss ich die prallen Plastikbeutel bis zur Bürgerweide schleppen, wo mein Auto geparkt ist. Es ist später geworden als geplant. Lieb von meiner Freundin, für einen Nachmittag den Kleinen zu betreuen, aber ich will ihre Geduld auch nicht überstrapazieren. Er wird sich freuen über das Überraschungsei. Und mit Frederic werde ich heute Abend die Flasche Chardonnay genießen und die frischen Krabben mit Spiegelei. Zum Glück hat es aufgehört zu nieseln. Dummerweise habe ich den Schirm im Wagen gelassen, aber ich hätte sowieso keine Hand mehr frei.
Hinter mir drängt sich ein mittelalterliches Paar lautstark durch den Eingang. Die beiden sind mir schon im Kaufhaus aufgefallen. Heftig diskutierend standen sie vor den Regalen. Typisch, habe ich gedacht, wenn der Ehemann schon einmal mitgeht, wird er seine Frau fachmännisch beraten, was sie einzukaufen hat.
„Du vergleichst nie die Preise“, höre ich ihn jetzt lospoltern. „Kein Wunder, dass du nicht mit dem Haushaltsgeld auskommst.“ Der Mann redet so laut und wütend, dass sich ein paar Passanten umdrehen und den gutangezogenen älteren Herrn mit seiner bestimmt zehn Jahre jüngeren Begleiterin verstohlen mustern. Sie hat den Kopf gesenkt, sein lautstarker Ausbruch und die Aufmerksamkeit, die sie auf sich ziehen, sind ihr offensichtlich peinlich.
„Stimmt ja gar nicht“, höre ich sie zischen. „Und schrei nicht so.“ Sein Gesicht ist dunkelrot. Er bindet den Gürtel um seinen hellen Staubmantel enger und zerrt an ihrem Arm. „Komm jetzt, sonst müssen wir noch die Parkgebühren nachzahlen.“
Sie lässt sich Zeit. Knöpft ihren eleganten Wollmantel zu und bindet sich ein Seidentuch geschickt über ihr blondiertes Haar. „Nun dräng nicht so, Herbert!“
Er lässt sich nicht stoppen und redet weiter laut und heftig auf sie ein, als sie mit eiligem Schritt in Richtung Sögestraße abbiegen.
Eigentlich ungewöhnlich, überlege ich ein wenig amüsiert. Ein wohlsituiertes Paar, bestimmt gutbürgerliche Mittelschicht, streitet sich lautstark in der Öffentlichkeit. Wo bleibt die vielgerühmte hanseatische Zurückhaltung und Diskretion?
„Du nimmst aus dem Regal, was dir gefällt, ohne auf den
Preis zu achten. Die gnädige Frau ist sich wohl zu fein dazu, über Geld zu reden.“ Groß und gebeugt hastet er mit schnellen Schritten die Einkaufszone hinunter, seine eher zierliche Begleiterin folgt zögerlich. Bleibt demonstrativ vor der Auslage eines Damenbekleidungsgeschäfts stehen und betrachtet die Auslage.
Nun mach schon, denke auch ich. Der rastet gleich aus.
„Ich achte halt auf Qualität“, höre ich sie nörgeln. Er dreht sich abrupt um. Ich sehe sein verkniffenes Gesicht, die blauen etwas hervortretenden Augen, den weit geöffneten Mund. „Es ist mein Geld, das du zum Fenster hinauswirfst. Mein hart verdientes Geld.“
Nun bleibt sie endgültig stehen und setzt die pralle Einkauftasche ab. „Jetzt beruhige dich mal und nimm die Tasche.“ Er bückt sich abrupt, nimmt den Einkauf, packt ihren Arm und zieht sie hinter sich her.
Ein paar Passanten sind aufmerksam geworden auf das streitende Paar. Ein älteres Ehepaar beschleunigt seine Schritte, peinlich berührt, will offensichtlich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Andere gehen langsamer, um nichts zu versäumen, bleiben sogar stehen.
„Lass mich sofort los!“ Sie windet sich aus seinem Griff. Und als sie die neugierigen Blicke der Leute sieht, sagt sie: “Ich nehme den Zug.“
„Was tust du?“ Nun ist es mit seiner mühsam aufrechterhaltenen Beherrschung vorbei. Er packt sie an den Schultern und versucht, sie nach vorne zu schieben.
Ein dunkelhäutiger Mann, ein Türke, vielleicht auch ein Libanese, geht drohend auf den Ehemann zu. „Lass los die Frau“, sagt er. Der Ehemann ist verunsichert. Seine Augen flackern. „Geht dich nichts an, du Kanake!“, sagt er, lässt aber seine Frau los. Sie murmelt ein paar Worte, die ich nicht verstehe. Und dann geht alles sehr schnell.
Er hebt den Arm und schlägt ihr ins Gesicht. Sie erstarrt. Der Schlag war heftig, ihre Augen füllen sich mit Tränen, vor Schmerz oder vor Zorn, das ist nicht zu unterscheiden. Aber ihr Widerstand scheint gebrochen. Sie stolpert hinter ihm her, verliert aber auf ihren spitzen Absätzen das Gleichgewicht und fällt.
Eine Punkerin bückt sich spontan, um der am Boden liegenden Frau aufzuhelfen. Der Ehemann schiebt sie beiseite. Er zerrt seine Frau hoch, hakt sie unter und beide entfernen sich mit schnellen Schritten.
„Haben Sie das gesehen?“ Die ältere Dame neben mir ist fassungslos. „So ein brutaler Kerl. Und man sieht es ihm überhaupt nicht an.“
„Die Frau ist selbst schuld“ sagt eine junge Frau mit müder Stimme und fasst an den Griff ihres Kinderwagens. „Sie hat ihn provoziert. Das ist dumm. Männer schlagen zu!“ Sie ist ganz weiß im Gesicht. „Ich kenne das!“ Ich blicke sie fassungslos an. „Stimmt doch. Wir müssen lernen nachzugeben.“
Meine Güte, welche Erfahrung mit Männern hat wohl diese junge Frau gemacht?
„Frauen sind eben manchmal echte Xanthippen, da haben es die Männer nicht leicht“, ein etwa vierzigjähriger Mann grinst uns an. “Er sollte sie bloß nicht in der Öffentlichkeit schlagen. Das ist unfein.“
Die ältere Dame starrt ihn an. „Was sich zwischen Mann und Frau abspielt, geht keinen etwas an!“, sagt er noch, zuckt die Schultern und geht weiter.
„Der Mann hat Recht“, sagt eine Passantin neben mir. „Man muss sich da raushalten. Sonst steht man am Schluss dumm da, wenn die sich wieder vertragen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.“
Nur die ältere Dame hat sich noch nicht beruhigt.“ Man hätte die Polizei rufen sollen.“ Sie sucht meinen Blick. „Aber es ging alles so schnell.“ Als ich nicht reagiere, verschwindet sie kopfschüttelnd in der Thalia – Buchhandlung.
Die Gruppe der Zuschauer hat sich aufgelöst. Ein Jugendlicher macht noch eine zotige Bemerkung, seine Kumpel lachen. Ein junges Paar küsst sich ostentativ. Ihre Liebe wird Bestand haben, denken sie wohl.
Verstört machte ich mich auf den Weg zum Parkplatz. Hätte ich eingreifen sollen? Habe auch ich keine Zivilcourage? Aber was geht mich überhaupt der Ehestreit eines wildfremden Paares an? Da kriegt man doch nur Ärger. Erst neulich habe ich in einer Untersuchung gelesen, dass Frauen zwar massenhaft in Frauenhäuser flüchten, aber die meisten von ihnen kehren wieder zu ihren prügelnden Männern zurück. Denen ist doch wohl nicht zu helfen. Aber vielleicht hätte ja die junge Frau mit dem Kleinkind Hilfe gebraucht. Aber was kann ich schon tun?
Mit schnellen Schritten und diffusem schlechten Gewissen gehe ich die Sögestraße hinunter. Es hat wieder angefangen zu regnen. Um die von der Nässe glänzenden Bronzeschweine hat sich eine Menschenansammlung gebildet. Ich ducke mich unter den Regenschirmen durch. Eine Gruppe junger Leute sprüht die Schweine rot und blau an.
„So eine Sauerei“, schimpft ein Rentner neben mir. Sie verunstalten unser Wahrzeichen. Bestrafen sollte man sie!“ „Genau“, ereifert sich ein anderer und zückt sein Handy. „Einsperren. Wegsperren! Ich rufe die Polizei.“
„Die ganze Innenstadt wird versaut mit diesem Graffiti-Zeug“, mischt sich eine Frau ein. Man muss sich schämen, Bremer zu sein. Was für einen Eindruck macht das auf die Touristen?“
„Verhaften sollte man das Gesocks. Arbeitslager, sage ich nur“, der Rentner ist nicht zu stoppen. „Hat es früher nicht gegeben!“
Ein flüchtiger Verdacht huscht durch mein Gehirn, doch ich wische ihn beiseite. Die Schweine interessieren mich nicht besonders, außerdem habe ich es brandeilig. Ich überquere den neugestalteten Bahnhofsvorplatz, weiche den Bussen und Straßenbahnen aus, zu ungeduldig, um auf das Grün der Ampeln zu warten. Mein kleiner Sohn wäre empört, fährt es mir durch den Kopf. Nun haben wir so oft geübt, dass das rote Männchen „Stehen bleiben“ bedeutet. Ein schlechtes Beispiel gibt seine Mama ab.
Vor dem Bahnhof sitzen die üblichen abgerissenen Gestalten: drogensüchtige Jugendliche, die vorbeihastende Passanten anbetteln, Alkis mit der obligatorischen Flasche Bier in der Hand und den ungepflegten Hunden an ihrer Seite. Auch der Osteuropäer, der sich die Seele aus der Brust fiedelt, kann mich heute nicht aufhalten. Der Kleine würde jetzt eine Münze in den offenen Geigenkasten werfen wollen. Habe ich ihm beigebracht. Egal, ein anderes Mal wieder. Ich habe keine Lust und keine Zeit, um tief in den Tüten nach meiner Geldbörse zu wühlen. Viel wichtiger ist, dass ich die Autoschlüssel finde.
Ich kämpfe mich durch das Menschengewühl im Eingangsbereich und versuche, an den Läden und Imbissbuden vorbei den hinteren Ausgang zu erreichen, halb betäubt von den krächzenden Ansagen der Lautsprecher.
Und dann sehe ich sie wieder. Das streitende Paar vor dem Kaufhaus. Sie sitzen inmitten einer kleiner Gruppe heftig diskutierender Leute in der Durchgangspassage vor dem Eiscafé, Weingläser und Kaffee auf dem Bistrotisch. Zigaretten qualmen. Ist hier nicht Rauchverbot? Aber der Streit scheint beigelegt.
Ich bin so verblüfft, dass ich mich an den Nebentisch setze und einen Latte macchiato bestelle.
„Ich mache das nicht noch mal“, sagt gerade die zierliche Blonde, die von ihrem Begleiter geschlagen wurde. „Das ist unfair den Leuten gegenüber.“
„Wieso unfair, Kollegin?“, fragt der Mann. Das ist die Theorie beim Unsichtbaren Theater. Die Zuschauer sollen zu Akteuren werden. Kein passives Zuschauen mehr, sie sollen selbst handeln, die Wirklichkeit mitbestimmen.“
„Ist doch Quatsch“, wirft einer aus der Gruppe ein. Wir sind hier nicht in Südamerika, wo Boal seine Theatertheorie im Kampf gegen Diktatur und Unterdrückung entwickelt hat.“
„Aber auch hier gibt es Unterdrückung, mein Lieber. Die Unterdrückung der Frau, zum Beispiel. Das muss den Menschen klar werden“, sagt der Mann, der den Ehemann gespielt hat
„Meinst du, das weiß eine Frau nicht, wenn sie geschlagen wird?“, wirft die blonde Frau ein. „Und wem haben wir denn geholfen? Meinst du, die junge Frau mit dem Kind, die geht jetzt nach Hause und befreit sich? Ich habe mich geschämt vor ihr. Sie bekommt die Prügel und wir spielen mit ihren Gefühlen.“
„Angst habe ich gekriegt, als der Türke sich eingemischt hat. Ich habe befürchtet, er haut mir eins aufs Maul.“, gibt Herbert zu.
„Er hätte Recht gehabt. Wenn auch aus anderen Gründen“, beharrt die Frau. „So kann man nicht mit Menschen umgehen. Ihre Gefühle manipulieren. Das ist völlig unmoralisch.“
„Du wolltest doch unbedingt die Theaterfortbildung mitmachen, Monika. Keiner hat dich gezwungen.“
„Stimmt. Ich wollte mich ausprobieren. Meine Angst überwinden. Aber nicht so. Nicht auf Kosten von anderen Frauen, denen ich verdammt wenig helfen kann.“
„Ich habe nur Angst, einer könnte uns wiedererkennen. Die Leute würden sich an der Nase herumgeführt vorkommen, vollkommen veralbert.“ In dem Sprecher erkenne ich den Mann wieder, der die provozierende These von den Xanthippen eingebracht hat, die Prügel verdienen. Monika hat Recht, wir sollten den ganzen Ansatz noch einmal überdenken.“
„Die heftigen Reaktionen der Zuschauer, damit habe ich nicht gerechnet. Der Türke, der mir helfen wollte. Die Punkerin. Die junge Frau, die offensichtlich von ihrem Mann geprügelt wird. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich steige aus.“ Sie steht abrupt auf und geht durch den hinteren Ausgang in Richtung Parkplatz. Die anderen sehen ihr schweigend nach.
„Guckt mal, da kommen die Schweinemaler!“, sagt Herbert und weist auf die Gruppe junger Leute, die sich lachend ihrem Tisch nähern. Die Sprühdosen haben sie offensichtlich verschwinden lassen.
„Ins Arbeitslager mit uns“, sagt einer lachend. „Diese Altnazis! Es ist unglaublich!“
Jetzt habe ich genug. „Und was wollten Sie mit Ihrer Aktion bewirken? Rechtsradikale Rentner aufstöbern? Für eine Reinigungsaktion der Stadt werben? Oder gegen Graffitischmierer hetzen?“
Die Mitglieder der Theatertruppe verstummen auf einen Schlag und schauen mich verblüfft an. Langsam stehe ich auf, lege das Geld für den Milchkaffee auf den Tisch und verlasse die Bahnhofspassage, ohne eine Antwort abzuwarten.
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7. Dezember 2010 at 20:06
Hallo Anne,
Man wird in die Geschichte ganz schnell reingezogen, ich konnte mir alle Szenen sofort plastisch vorstellen. Die Icherzählerin ist zwar eine offenbar junge Frau mit Kind, aber als Leserin identifiziere ich mich mit ihr und mit ihrer Verblüffung über das Unsichtbare Theater, über dessen Theorie ich gleich nebenbei ein bisschen lerne. Ganz nachvollziehbar finde ich es nicht, dass sie trotz ihrer Eile sich am Ende doch einmischt ohne eine Antwort abzuwarten. Das besonders Gute an der Geschichte ist natürlich, dass ich als Leserin alle Perspektiven kurz angeboten bekomme und mich am Ende selbst nach meinem Standpunkt fragen muss.