Um nicht zu vergessen

Den alten Plunder wollte sie nicht. Widerwillig zog Eva-Maria die zerknitterte Bettwäsche, die verwaschenen Handtücher aus den geöffneten Schränken. Morgen würde das Entrümplungsunternehmen kommen. Die Schränke, Tische, Stühle, das alte durchgesessene Sofa, das quietschende Bett, das der Vater nach dem Tod der Mutter durchgesägt hatte, die abgetretenen Teppiche und all die anderen Überbleibsel eines fast 80-jährigen Lebens würden unter der Plane eines Kleinlasters verschwinden. Auf Nimmerwiedersehen. Nein, sie konnte nichts brauchen in ihrer großen hellen Wohnung mit den modernen Designermöbeln. Nein, auch nicht zur Erinnerung.
Die Ausbeute bei den Büchern war nicht groß. Felix Dahn, Gulbransson, Hausmann, Gorch Fock, Gwen Bristow, Hermann Löns, John Knittel, die Lagerlöff, Rudolf Kinau, dann jede Menge Geschichtsschinken, den Lesegeschmack ihres Vaters hatte sie nie geteilt. Er hatte sowieso meistens Zeitung gelesen, sie auswendig gelernt, wie Mutter liebevoll zu lästern pflegte. Und dann hatte er sie alle mit seinem Wissen erschlagen. Informier dich doch erst einmal richtig, hatte er gepoltert, wenn seine jüngste Tochter in politischen Fragen wieder einmal nicht seiner Meinung war. Dummes linkes Geschwätz, hatte er gesagt, und die Studentin mit einer Handbewegung abgekanzelt. Werd erst einmal so alt wie ich, dann weißt du, was von dem ganzen roten Gesocks zu halten ist. Natürlich hatte er Adenauer gewählt, natürlich hatte er gesagt, sie hätten von den KZs nichts gewusst, nichts von den Massakern an der Zivilbevölkerung beim Vormarsch nach Osten. Ein deutscher Offizier hätte das nie getan, war seine Standardfloskel. Die Wehrmachtsausstellung: lauter gefälschte Bilder.
Einen Umzug in ein Heim mit betreutem Wohnen hatte er abgelehnt. Nur den alten Hund duldete er noch um sich, der ihm am Tisch die Sahne aus der Hand schleckte und meistens furzend auf dem Sofa schlief. Der ist mir lieber als jeder Mensch, sagte er und streichelte das Tier. Und so hatte ihm auch niemand helfen können, als er vor einer Woche den tödlichen Herzinfarkt erlitt. Ist auch besser so, dachte Eva-Maria und zog zögernd die Fotoalben aus dem Regal. Familienbilder. Kinderbilder von sich und ihrer Schwester, die längst in Kanada lebte und die sie zum letzten Mal bei Mutters Beerdigung gesehen hatte. Hinter den Alben ein dickes DinA-5-Heft mit schwarzem Pappdeckel. Abgegriffen, mit Wasserflecken. Sie schlug es auf. »Kriegstagebuch« stand auf der ersten Seite. »1939-1944«.
Vater hatte Tagebuch geführt? Eva-Maria setzte sich auf die Seitenlehne des alten aufgeplatzten Sessels, ließ das Heft auseinanderfallen, fing an zu lesen.
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Mir ist schlecht, oh Gott, ist mir schlecht. Gib, dass das Schiff aufhört zu rollen. Gib, dass der Sturm nachlässt. In dieser verdammten engen Koje kann man ja kaum den Stift festhalten. Ich fühle mich wie in einem stählernen Massengrab. Einer von über zweitausend Prisoners of War mitten auf dem Atlantik. Volle Fahrt voraus, Richtung amerikanische Ostküste. Hoffentlich erwischt uns nicht zu guter Letzt noch ein deutsches U-Boot.
Die Verpflegung ist gut, das muss man den Amerikanern lassen, und korrekt behandeln tun sie uns auch. Dabei würde ich verstehen, wenn sie uns schikanieren würden. Ihre Verluste bei der Landung waren dramatisch. Viele Landungsboote sind in der rauen See gekentert, ehe die Mannschaften das Ufer erreichen konnten. Die GIs ersoffen wie Katzen. War aber zum Teil auch eigene Dummheit. Ausbooten – bei dem Orkan! Ihre Generäle: dieselben Idioten wie unsere.
Natürlich haben wir aus unseren Bunkern gefeuert, was das Zeug hielt. Einer meiner Unteroffiziere hat allein 20 Panzer abgeschossen, als sie die endlich am Strand hatten. Mit Benzintanks obendrauf. Der volle Irrsinn. Sie sind wie Feuerwerkskörper explodiert. Hat uns aber alles nichts genützt. Die Übermacht war zu groß. Unsere Stützpunkte wurden zusammengebombt wie Kartenhäuser. Wir hatten keine Chance. Ich war mit meinen 180 Leuten abgestellt, um den Würzburg-Riesen zu bewachen, der feindliche Flugzeuge in einem Umkreis von 200 km orten konnte. Orten schon, aber nicht aufhalten. Zwei eigene Luftgeschwader, mickrige 50 Flugzeuge, damit war die Lufthoheit der Alliierten nicht zu brechen.
Die Weißrussen in meiner Kompanie hauten schon am Anfang ab. Die kriegserfahrenen alten Männer im zweiten Zug versuchten, so gut es ging, die Moral aufrechtzuerhalten. War schwierig bis unmöglich. Der größte Teil meiner Soldaten bestand aus Jungvolk, ehemalige Hitlerjungen, frisch von der Schulbank. Schlecht ausgebildete Grünschnäbel. Die gerieten sofort in Panik, wenn einer von ihnen – von Granatsplittern getroffen – nach seiner Mutter schrie. Und verblutete. Ein schwer erträglicher Anblick. Herausquellende Gedärme, zerfetzte Gesichter. Unser Bunker wurde immer wieder getroffen, die Gräben zwischen den Stellungen gaben nur wenig Schutz. Ängstliche Jungengesichter, in Todesangst aufgerissene Augen, mir drehte sich der Magen um. »Er stirbt, er stirbt, Herr Oberleutnant«, kreischende Jungenstimmen. Die erfolglosen Versuche, sterbende Kameraden aus den Trümmern zu ziehen.
Die Lage war aussichtslos. Führerbefehl hin oder her. Kämpfen bis zur letzten Patrone, so hieß der Befehl. Dass ich nicht lache. Was dachten diese Großmäuler sich eigentlich in ihren fetten Bunkern dort in Berlin? Fehlentscheidungen, wohin man guckte. Wo hatte man die Landung erwartet? In Calais. Nach Informationen des deutschen Geheimdienstes. Waren wohl eher Fehlinformationen. Omaha Beach, Utah Beach, Juno Beach, Sword Beach. Unbekannt, was? War ja auch Englisch. Was kann man erwarten von Leuten, die einen Psychopathen als Führer und einen morphiumsüchtigen Versager als Oberbefehlshaber der Luftwaffe haben. Und dann die Helden vom 20. Juli, ich könnte ausspucken, wenn ich nur daran denke. Der Krieg, so gut wie verloren, und dann merkten diese adeligen Herren erst, wem sie hinterhergelaufen waren. Hurraschreier und Karrieristen. Widerstand? Zu feige, um neben der Bombe stehen zu bleiben. Tja, dann ist eben die Tasche verrückt worden. Nein, von denen war wirklich nichts zu erwarten. Und ich sollte meine Jungs opfern. Junge Männer, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben.
»Die weiße Fahne raus«, habe ich gebrüllt.«Wir ergeben uns!« Immerhin, fast die Hälfte meiner Männer habe ich retten können. Darauf bin ich stolz. Ich gebe zu, auch ich habe Hitler am Anfang zugejubelt. Bin noch nicht einmal schlau geworden, als man mir im Winterkrieg vor Moskau das linke Auge wegschoss. Dass man mich nach dem Lazarettaufenthalt in Kolberg zum Offizierslehrgang nach Frankreich geschickt hat, hat mir wohl den Verstand vernebelt. Dabei war doch der ganze Krieg schon gelaufen, als wir ohne Winterausrüstung vor Moskau kehrtmachen mussten. Plötzlicher Wintereinfall. Dass ich nicht lache. Denen da oben waren wir doch völlig egal. Kanonenfutter waren wir, mehr nicht.
Und sollte ich einmal einen Sohn haben, das gelobe ich hier und jetzt: Nie, nie wird er eine Uniform tragen. Nie. Darum führe ich dieses Tagebuch. Um nicht zu vergessen.

Die Schrift wurde unleserlich. Eva-Maria klappte das Heft zu und strich sich gedankenverloren über das widerspenstige dunkle Haar. Was sie hier las, das passte so gar nicht zu dem Bild, das sie von ihrem Vater hatte. Sie steckte das Tagebuch in ihre Handtasche.  Sie musste mit ihrer Schwester telefonieren. Dringend.


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