Therapiestunde

»Und das sind Sie auf dem Bild?«, fragt die Journalistin und zeigt auf das Schwarz-Weiß-Foto an der Wand. »Sie waren eine Schönheit, wissen Sie das?«
Die alte Dame lächelt. »Nun übertreiben Sie mal nicht.«
»Doch, doch«, sagt die Journalistin und schaut ihre Gastgeberin an. Ein Gesicht von einem langen, sicher nicht immer einfachem Leben gezeichnet. Doch die breiten, hohen Wangenknochen, das klar geschnittene Kinn, die sorgfältig hochgesteckten, grauen Haare und vor allen Dingen die funkelnden, hellen Augen sind immer noch bemerkenswert schön.
»Nehmen Sie doch ein Stück Kuchen.« Die alte Dame setzt sich, schiebt den Kuchenteller näher und sieht die Journalistin fragend an. »Noch eine Tasse Kaffee?«
»Gerne«, sagt diese, hält die blau-weiße Tasse mit dem Zwiebelmuster hoch und blickt sich im Raum um. »Gemütlich haben Sie es hier.«
»Es sind immer noch die alten Möbel«, sagt die alte Dame und streicht mit blau geäderten Händen über den Brokatstoff ihres Sessels. »Seitdem mein Mann gestorben ist, habe ich nichts Neues mehr gekauft. Aber meine Schwiegertochter besteht darauf, hin und wieder einen Stuhl aufzuarbeiten, ein Sofa neu zu beziehen. Sie hat sehr geschickte Hände.«
»Und diese wundervollen, hohen Regale mit den vielen Büchern. Hier sieht es aus wie in einer Bibliothek.«
Die alte Frau lächelt. »Mein Mann und ich, wir haben Bücher geliebt. Und in so einem langen Leben, da kommt ein Buch zum andern. Bücher sind Freunde. Wir haben uns immer gescheut, eins wegzuwerfen. Wenn ich nicht mehr bin, werden die Kinder schimpfen, wenn sie sehen, was sie alles wegschaffen müssen.«
»Ach was, die werden sich freuen«, sagt die Besucherin. »Aber eigentlich bin ich gekommen, weil Sie mir versprochen haben, von Ihrer Arbeit als Kindertherapeutin zu berichten. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir Notizen mache?«
Die alte Frau schüttelt den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Ich habe schon so lange nicht mehr davon erzählt. Wissen Sie, meine Kinder und meine Enkelkinder können die alten Geschichten nicht mehr hören. Ich freue mich, dass Sie sich dafür interessieren. Sehen Sie, ich habe auch Fotos aufbewahrt und viel von dem Material, mit dem ich in der Praxis gearbeitet habe. Wenn Sie wirklich nichts mehr essen wollen, dann lassen Sie uns ins Arbeitszimmer gehen. Ich habe dort alles vorbereitet. Wir können den Kaffee mitnehmen.«
Mühsam hievt sich die Gastgeberin aus dem Sessel, jede Hilfe ablehnend. Auf einen Stock gestützt humpelt sie langsam ins Nebenzimmer, die hohe Gestalt nach vorn gebeugt, die linke Hand in die Seite gepresst. Die Besucherin staunt nicht schlecht, als sie einen Diaprojektor sieht, davor die hinuntergerollte Leinwand. Die alte Frau hat sich auf den Vortrag vorbereitet.
»Setzen Sie sich!« Die Therapeutin zieht die schweren Vorhänge zu. »Ich möchte Ihnen von Per-Olaf erzählen, einem kleinen Jungen, den ich nie vergessen konnte. Er ist so viele Jahre zu mir gekommen.«
Auf der Leinwand erscheint die Gestalt eines vielleicht sieben- oder achtjährigen Jungen mit großen, traurigen Augen hinter einer Brille mit dicken Gläsern. Er blickt, ohne zu lächeln, in die Kamera, die Lippen zusammmengepresst, die dunklen Haare dünn und glatt am Kopf klebend. Neben ihm eine schlanke, stark geschminkte Frau im Pelzmantel. Eine Hand liegt auf der Schulter des Kindes, der Arm ist ausgestreckt, so als wolle sie den Kleinen in den Raum hineinstoßen.
»Das sind Per-Olaf und seine Mutter. Sie erschien eines Tages mit dem Jungen in meiner Sprechstunde. Die Lehrerin habe sie geschickt. Per-Olaf verweigere im Unterricht jede Mitarbeit, sondere sich von den andern Kindern ab, wolle nicht spielen und würde verstockt schweigen, wenn man ihn etwas frage.  Sie habe die Nase voll von diesem schwierigen Kind. Es gebe einen neuen Mann in ihrem Leben, und sie wolle ausziehen und nur den großen Bruder mitnehmen. Der sei wenigstens normal. »Der kommt auf meine Familie«, sagte sie wörtlich. Ihr Mann sei auch so ein verkümmerter Stubenhocker.
Die alte Therapeutin unterbricht sich und sieht die Journalistin an. »Wissen Sie, was das Schlimmste war, Per-Olaf musste sich das alles mit anhören. Die Frau nahm überhaupt keine Rücksicht auf den Jungen. Ich versuchte, die Frau so schnell wie möglich loszuwerden und fragte Per-Olaf, ob er eine Stunde bei mir bleiben und spielen wolle. Der Junge schaute sich im Raum um, was er sah, schien ihm zu gefallen, und er nickte. »Sein Vater wird ihn abholen«, sagte die Frau und verschwand. Wir lauschten dem Klappern ihrer hohen Absätze im Flur.
Ich gab dem Jungen die Hand und fragte ihn, ob er Lust habe, in meinem Zimmer zu spielen. Der Kleine sah mich an und ich glaubte, Erleichterung in seinem Gesicht zu sehen.
»Ich muss keine Schularbeiten machen?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich.
Die alte Therapeutin schiebt ein neues Dia in den Projektor. Ein Foto, das den Jungen zeigt, wie er auf dem Boden vor einer länglichen Holzkiste hockt und offensichtlich Figuren hin- und herschiebt.
»Das ist die Kiste, die ich oft in Therapiesitzungen benutzt habe. Eigentlich eine Puppenstube, eine Puppenstube ohne Dach, sodass man hineinschauen kann. Sehen Sie, ich habe alles aufbewahrt. Hier im Korb sind all die Personen und Möbel, die man in einer Wohnung finden könnte.«
Die Journalistin nimmt einzelne Püppchen in die Hand. Bunte Plastikfigürchen, Holzmöbel, abgegriffen und alt, die Farben verblasst von vielen Kinderhänden.
»Hier ist alles drin, was man braucht: Eltern, Großeltern, Geschwister, ein Hund, eine Katze, Tische, Stühle, ein Sofa, Sessel, Betten, ein Fernseher, Spielzeug und was immer Sie wollen. In der ersten Stunde habe ich oft alle Figuren und die Einrichtungsgegenstände auf den Boden geschüttet und die Kinder in Ruhe gelassen. Ganz vorsichtig hat auch Per-Olaf die Figuren in die Hand genommen. Zuerst fing er an, das Zimmer einzurichten. Mit langsamen Bewegungen, ohne ein Wort zu sagen, ganz konzentriert. Das Ergebnis war verblüffend.«
Die Therapeutin projiziert ein neues Bild auf die Leinwand. In einer Ecke der Puppenstube sitzen ein Mann und eine Frau vor dem Fernseher. Ein größerer Junge spielt unter dem Tisch mit einem Laster, hat Klötze eingeladen und wandte sein Gesicht den Eltern zu. Im anderen Zimmer – offensichtlich dem Schlafzimmer – liegt ein kleiner Junge allein in seinem Bettchen. Die Zwischentür ist geschlossen.
»Das Baby weint«, sagte der Junge leise zu mir, als ich ihn fragte, ob ich mir seine Wohnung anschauen durfte. »Es ist böse. Es schreit immer. Mama und Papa können nie in Ruhe Fernsehen gucken. Deshalb haben sie die Tür auch zugemacht.“
»Und der große Junge, der ist lieber?«
Per-Olaf nickte. »Ja, der ist viel lieber und ganz klug. Man kann ihn überall mit hinnehmen.«
»Dein Papa holt dich ab«, sagte ich, als es klingelte.
»Ich bleib auch bei Papa. Mama nimmt ja nur den Robert mit nach Köln.«
»Als Kindertherapeutin musste ich mich professionell verhalten, aber innerlich brach mir das Herz. Ich brauchte gar nicht zu fragen, was der Junge dort nachspielte. Das ganze Drama seines Lebens lag vor mir.«
»Und? Wie ging die Geschichte weiter?«
Die alte Frau reicht der Besucherin einen Ordner mit Zeichnungen.
»Die Mutter ist tatsächlich mit dem älteren Sohn weggezogen. Per-Olaf kam über vier Jahre regelmäßig zu mir. Er kam gerne und wurde offener. Der Vater hat dann bald eine andere Frau kennen gelernt, die dem Jungen offensichtlich gut tat. Er wurde mit der Zeit fröhlicher. Das kann man auch an den Bildern sehen, die er mir im Laufe der drei Jahre malte.«
Sie öffnet eine Mappe mit Kinderzeichnungen. »Schauen Sie, die kleinen Tiere, die sich anfangs immer unter dem Sofa oder in Höhlen verstecken, kommen nach und nach an die Oberfläche und spielen miteinander. Auch in der Schule klappte es besser. Ich war in Kontakt mit der Lehrerin und die bestätigte mir, dass Per-Olaf nach und nach seine Außenseiterposition aufgab und sich immer mehr integrierte und mit den anderen Kindern spielte.«
»Wissen Sie, was aus dem Jungen geworden ist?«
»Nach ein paar Jahren zog die Familie weg. Anfangs hatten wir noch Briefkontakt, der brach aber leider ab.«
»Sie würden heute sicher gerne wissen, was aus Ihren kleinen Patienten geworden ist. Ob sie ihr Leben ‘gepackt’ haben.«
»Ja, natürlich. Und ich glaube fest, dass ich einigen Kindern helfen konnte. Meistens sind ja die Eltern schuld, wenn es den Kindern schlecht geht. Aber da kann man nichts machen, wenn die nicht wollen.«
Schweigend sitzen die beiden Frauen im Halbdunkel.
»Wissen Sie«, sagt die junge Journalistin, «ich hatte eine kleine Schwester, die ist bei meiner Mutter geblieben, als meine Eltern sich getrennt haben. Ich habe sie nie wiedergesehen.“


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One Response to “Therapiestunde”

  1. Gravatar of M. Herzer M. Herzer
    5. Februar 2015 at 23:17

    Diese Erzählung gefällt mir sehr gut, einfühlsam und echt.

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