Stille Tage am See

Die Zeit steht still. Noch ist es schwierig, die Hektik und Aufregung der letzten Tage zu verdrängen. Der Lärm Lissabons schrillt noch in den Ohren: rasende Taxis, hupende Autos, bimmelnde Straßenbahnen, die Motoren startender und landender Flugzeuge im Minutentakt über den Dächern.
Und hier am See, kilometerweit entfernt von jeder menschlichen Behausung: Stille. Absolute Stille.

Ich sitze auf der mit Weinlaub überdachten Terrasse, den Schreibblock auf der Schieferplatte und lausche, lausche auf Geräusche, leise Geräusche, zirpende, lispelnde, klatschende Geräusche. Meine Ohren wie Watte. Dröhnende Stille. Unsinn, Stille kann nicht dröhnen. Ein Hörsturz?
Mein Blick gleitet an der sich im leichten Wind wiegenden Bougainvillea vorbei und fällt auf den dunkelgrünen See unter mir. Ruhig liegt er da, ohne Wellen, ein glatter Spiegel inmitten von pinienbewachsenen Hügeln. Ein Wasservogel schreit. Er schreit wirklich. Gott sei Dank, mein Gehör hat nicht gelitten. Ich höre den Vogel schreien und krächzen, und dann taucht er ins Wasser ab, schnellt wieder hervor, einen silbernen Fisch im Schnabel. Eiligst macht er sich davon, ehe ihm ein Artgenosse den Fang streitig macht.
Eine dicke Hummel summt heran, auch die höre ich. Sie kreist um die Reste des Marmeladenbrotes am Tischrand. Ich bin so glücklich, dass ich wieder hören kann, dass ich sie noch nicht einmal von meiner Kaffeetasse verscheuche.
Ich stehe auf und schlendere durch den Garten, den steilen Hang hinab zum Wasser. Vogelgezwitscher im fast abgeernteten Pflaumenbaum. Ich habe verdrängt, wie ich ihr Singen und Locken, ihr Zwitschern und Flöten in unserem Garten zu Hause vermisst habe Seit einem Jahr habe ich nur aufdringliche, krächzende Krähen gesehen und gehört.
Unter dem überdachten Vordach des alten Steinhauses wackelt ein kleines, weißes Wollknäuel auf mich zu und wufft leise. Eine winzige weiße Hündin, Pudelmischung, die unsere Gastgeberin Marianne aufgelesen hat auf dem Müllplatz des Dorfes, entsorgt vom Besitzer wie lästiger Abfall. Seit zwei Tagen frisst sie wieder, hat Marianne gesagt, nachdem der Tierarzt sie untersucht und entfloht hat. Jetzt macht sie Gehversuche, will das neue Gelände erkunden, entwindet sich furchtsam meinen streichelnden Händen. Die größeren Hofhunde sind nicht zu sehen, man hört nur ihr aufgeregtes Bellen, wahrscheinlich haben sie eine Wildschweinfährte gefunden.
Es ist noch früh, noch nicht heiß im Garten. Die Sonne lockt uns auf die Liegestühle. Das Buch auf dem Schoß, den dösenden Blick in die langen, Schatten spendenden Blätter der Yuka-Palme gerichtet. Ich streiche über meinen Bauch. Kühl, trotz der Sonnenstrahlen vom makellos blauen Himmel. Noch gewinnt die kühle Luft über dem träg dümpelnden See den Kampf gegen die Hitze. Später werden wir zurückgehen in das alte verschattete Steinhaus und hinter heruntergelassenen Rollos Siesta halten auf dem breiten Bett in der Kühle des Zimmers.
Unten am Hang liegt das kleine Ruderboot mit einer langen Kette an einem angeschwemmten Baumstumpf. Sollen wir? Mein Begleiter schüttelt leicht den Kopf. Keine Hektik. Wir haben Zeit, Zeit, Zeit. Nicht Zeit vertreiben, haben wir uns vorgenommen, sonderZeit anhalten, Zeit genießen, beobachten. Die Sonne auf den geschlossenen Lidern fühlen. Ruhig atmen. Nichts tun. Gar nichts.
Wie lange werde ich dieses Nichtstun  aushalten? Nur die leise schwankenden Zweige der Orangenbäume anschauen, ,die kleinen, unreifen Früchte betrachten, die leise mitschaukeln, umgeben von unzählig summenden Insekten? Bienen? Wespen? Wie wenig weiß ich von der Tierwelt. Wie mangelhaft meine Kenntnisse der Blumen und Pflanzen. Aber schön ist es hier, wunderschön. Ein Blick des Einverständnisses, wir ziehen uns nackt aus, gehen baden. »Komm, meine Eva, wir sind im Garten Eden!« Ein Wasserhuhn schreckt auf, quakt fast wie ein Frosch. Sehr kühles Wasser auf der Haut, schnelle Atemzüge, dann angenehmes Kribbeln. Wir planschen und tauchen, übermütig wie die Kinder, schwimmen in langen Zügen zur Mitte des Sees, surfen auf Sonnenstrahlen, lassen uns auf dem Rücken liegend zurück ans Ufer treiben.
Mir kommt in den Sinn, dass es Faust ist, der sich wünscht, der Teufel möge ihn holen, wenn er sagt: Augenblick verweile doch, du bist so schön.
Dann soll uns halt der Teufel holen. Ich will verweilen!


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