Hitchhiking
Eigentlich unfair von Mama, dachte Frauke, als sie im Zug nach Calais saß. Ihre Eltern hatten sie zum Essener Hauptbahnhof gebracht, ihr noch 100 Mark in die Hand gedrückt und »gute Reise« gewünscht. Das Geld für das Zugticket und die Fähre von Calais nach Dover hatte sie sich in den Semesterferien verdient. Sechs Wochen lang hatte sie Post ausgetragen. War ja ok., die Eltern bezahlten die Bücher, die sie für das Anglistikstudium brauchte. Wohnen konnte sie zu Hause. Dass aber Mutter ihr im letzten Moment – der Zug lief schon ein – ins Ohr gezischelt hatte: »Du versprichst mir in die Hand, nicht zu trampen«, war eine Gemeinheit, die auch Vater nicht mitbekommen sollte.
Mutter wusste genau, wie gewissenhaft Frauke sich an gegebene Versprechen hielt. Frauke hatte genickt, Mutter aber nicht die Hand gegeben. Also war sie auch nicht verpflichtet, ihr Versprechen einzuhalten. Oder doch? In Köln stieg ihre Freundin Kitty zu, die hatte auch nicht viel Geld. Es war abgemacht, dass sie nach Schottland trampen wollten. Allerdings zerstritten sie sich auf der Fähre so heftig, dass – in Dover angekommen – Kitty die nächste Fähre zurück nach Calais nahm, Frauke sich aber entschloss, die Tour nach Schottland allein zu wagen.
Es waren noch die Zeiten, als Tramper – und vor allen Dingen Tramperinnen – an der Autobahn mitgenommen wurden, und so war es auch für Frauke kein Problem, noch am selben Tag bis York zu kommen.
Nach einem ausgiebigen englischen Frühstück im »Bed and Breakfast« besichtigte sie die imposante Kathedrale in York, gönnte sich Fastfood beim Chinamann in der Fußgängerzone, ließ sich mit dem Bus aus der Stadt herausbringen und hob den Daumen an der Auffahrt zur M1.
Ein Lastwagenfahrer kurbelte die Scheibe hinunter: »Where are you going, love?« fragte er, reckte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür. »Come on in, love!« Frauke hatte ein komisches Gefühl, stieg aber ein. Der Mann sah manierlich aus, uralt, sicher schon fünfzig, also jenseits von Gut und Böse. Sie musterte ihn von der Seite: dunkles, schütteres Haar, scharfes Profil, große Nase, hängende Lider über hervorquellenden Augen. Wie hohl war es denn, einen Menschen nach seinem Äußeren zu beurteilen, schalt sie sich. Wahrscheinlich ein kreuzbraver Familienvater mit pubertierenden Kindern und einer Frau mit Lockenwicklern.
»Why are you grinning_«, fragte der Mann plötzlich. »Are you laughing about me?«
»No, not at all«, beeilte sich Frauke zu sagen.« I´m so happy I`ve got a lift.«
»Right you are«, sagte der Mann. »Right you are!« Er griff in seine Jackentasche, holte eine Packung Marlborough hervor, hielt sie Frauke hin.
»Light one for me«, sagte er.
»Ich rauche nicht«, sagte Frauke verunsichert. »I don`t smoke!«
Die Miene des Mannes verdüsterte sich. Er riss ihr die Packung aus der Hand, klopfte auf den unteren Rand, fingerte eine Zigarette heraus und steckte sie zwischen die Lippen. Ganz schön schlechte Zähne, dachte Frauke , als sie die braunen Stumpen sah. Hatte aber sofort wieder ein schlechtes Gewissen. Als Lastwagenfahrer hatte er sicher nicht viel Geld. Konnte sich die Zähne nicht vernünftig reparieren lassen.
Er warf ihr das Feuerzeug zu. Offensichtlich sollte sie ihm Feuer geben. Er nahm ihre Hand, die das Feuerzeug umklammerte, führte sie nah an sein Gesicht.
»A lot to learn, my gal«, sagte er, knipste das Feuerzeug an und warf es mit der Zigarettenpackung zwischen ihre Oberschenkel.
Ich glaube, ich steige aus, dachte Frauke. Der Kerl ist mir zuwider.
»What do you think about Hitler?«, fragte er plötzlich. Der Verkehr war dichter geworden, sie kamen nur langsam voran.
Oh Gott, dachte Frauke. Was soll das denn?
»What do you think about Hitler?«, wiederholte der Mann. Er starrte geradeaus auf die Straße. »All Germans are Nazis!«
Frauke lief es kalt über den Rücken.
»Nein«, sagte sie. »No, no, I`m not a Nazi!«
Der Mann schwieg. Ich muss hier raus, dachte Frauke. Aber wie?
»What do you think about Hitler?«, fragte der Mann wieder und wandte den Kopf.
»A very bad man«, sagte Frauke mit unsicherer Stimme. »Nobody in Germany likes him.«
Der Mann lachte und haute aufs Lenkrad. »You are lying. All Germans are Nazis!«
»Nein«, sagte Frauke. Ihre Stimme kippte. »Can I please get out?«
Der Verkehr war dünner gesowden, der Laster hatte an Geschwindigkeit zugelegt.
»Why, love? Are you afraid of me?«
»No, I`m not«, log Frauke. Sie musste hier raus. Sofort. Mit oder ohne Gepäck. Der Mann war durchgeknallt. In der nächsten Raststätte würde sie rausspringen.
Der Fahrer schien ihre Gedanken zu raten. Sie hörte, wie sich die Seitentür mit einem Klick schloss. Sie war in einem Albtraum gelandet. Jetzt nur die Nerven behalten, das Spiel dieses Irren mitspielen.
Frauke versuchte, ihn anzulächeln. »I have to go to the toilet!«
Der Mann schaute sie misstrauisch an. »Right now?«
»Right now, please!«, sagte Frauke und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»What do you think about Hitler?« Wieder diese Frage. Was sollte sie antworten? Was wollte er hören?
»I was born after the war«, sagte sie. Erst in der Schule habe sie von den grässlichen Verbrechen gehört.
»Your parents didn`t tell you?«
Nein, ihre Eltern hatten ihr nichts erzählt, hatten angeblich nichts gewusst von Konzentrationslagern und Waffen-SS.
»Your parents were Nazis?«
Ob ihre Eltern Nazis waren? Sie wusste es nicht. Die Mutter eher nicht, die war eine treue Kirchgängerin. Aber Vater? Wahrscheinlich.
Sie zuckte die Schultern. »I don`t know. Really, I don` know.« Sie kämpfte gegen aufsteigende Tränen an, schluckte.
»Wir auch haben geweint«, sagte der Mann auf Deutsch. »Wir Kinder. Jüdische Kinder im Zug. Verschickt nach England. Schwester ganz klein. Zwei Jahre alt. Aufpassen auf sie, hat Mama gesagt. Aber nie mehr gefunden. War weg.«
»Und Ihre Eltern?«, fragte Frauke gegen ihren Willen.
»Tot. Beide. Concentration Camp. Mama Typhus, Papa erschossen.«
»Wie schrecklich«, sagte Frauke. Aber was konnte sie dafür? Sie war Jahrgang 50. Fünf Jahre nach Kriegsende geboren.
»Du musst schauen Bilder«, sagte der Mann. »Zuhause ich zeigen dir Bilder von Concentration Camp. Du musst wissen, wie war.«
Und dann bringt er mich um, dachte Frauke. Ich muss hier raus. Sie versuchte es noch einmal:
»I have to go to the toilet!«
»Gleich zu Hause«, sagte der Mann.
»Nein«, schrie Frauke, versuchte die Tür zu öffnen. Vergebens.
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