On schedule
Das elegante Paar Anfang 50 ist offensichtlich spät dran. Der Mann stürmt im Eilschritt durch die sich automatisch öffnende Glastür in die lichtdurchflutete Abflugshalle des Lissaboner Flughafens, einen dunkelblauen Rolli hinter sich herzerrend.
»Beeil dich! Die haben uns bestimmt schon ausgerufen.« Er dreht kurz den Kopf zu seiner Frau, die im elegant geschnittenen lachsroten Sommerkleid auf ihren hohen Absätzen hinter ihm herstolpert. «Dass du auch nie rechtzeitig fertig wirst!«
Die Frau sagt kein Wort, blickt angestrengt nach vorn und schiebt mit der linken Hand den abgerutschten Gurt ihres Kosmetikkoffers über die Schulter. Erst als sie sich der grauen Edelstahlwand der sich öffnenden und schließenden Fahrstuhltüren nähern, bleibt sie abrupt stehen wie ein bockendes Pferd und zischt: »Ich geh da nicht rein. Das weißt du!«
»Nun mach nicht wieder so ein Theater!« Der Mann kommt zurück, packt die Frau am Arm und versucht, sie durch die Tür zu drängen. »Für deine Mätzchen ist es zu spät!«
Die Frau wehrt sich, das Gesicht panisch verzerrt, doch er ist stärker. Sie wird zusammen mit dem Rollkoffer in den Lift gezogen. Mit dem rechten Arm nagelt er sie förmlich an der Seitenwand fest. Mit der freien Hand tastet er nach den Knöpfen und drückt auf die schwarze Drei: dritte Ebene.
Ehe sich die automatische Tür schließt, springt ein braungebrannter, junger Mann in Kapuzenshirt, Surfershorts und Plastikschlappen durch die Lücke und japst: »Geschafft!« Er sieht den Mann an, der seine Frau an den Schultern hält, und sagt: »Sind Sie auch so spät dran? Flieger nach Düsseldorf?« Der Mann nickt abweisend, seine Frau ist weiß wie die Wand.
»Geht es Ihrer Frau nicht gut?«
»Meine Frau hat Platzangst. Fahrstühle sind ihr ein Horror«, brummt der Mann. »Aber dann darf sie nicht so trödeln vor dem Flug. Reiß dich jetzt zusammen, Magdalena. Nur noch ein Stockwerk.«
Der Surfer runzelt die Stirn. »Kenn ich, das Gefühl. Ich hasse sogar das Fliegen. Aber ich muss da durch. In Guincho steht die beste Welle. Geile Tubes.«
Der Aufzug hält mit einem Ruck an. Die Frau schreit auf, gleichzeitig geht das Licht aus. Es wird stockdunkel.
»Auch das noch!«, sagt der Surfer und tastet nach dem Notrufknopf. Drückt sein Ohr an die Sprechanlage. Nichts.
Die Frau kauert sich auf den Boden. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und wimmert vor sich hin.
»Hör auf!«, sagt der Mann. »Du machst uns noch alle verrückt!«
»Sicher geht es gleich weiter«, sagt der Surfer und drückt wieder auf den Notruf. »Verdammt, der Flieger wird nicht warten. Sie haben uns sicher schon ausgerufen.«
Der Mann hämmert mit den Fäusten gegen die Tür.
»Wir stecken zwischen zwei Etagen«, sagt der Surfer. «Uns hört hier erst einmal niemand.«
Die Frau kriecht über den Boden. »Hilfe!«, japst sie.«Hilfe! Ich kriege keine Luft!«
Der Surfer kniet sich zu ihr. »Ganz ruhig«, sagt er. »Atmen. Ausatmen. Versuchen Sie, gut auszuatmen.« Er hilft ihr, sich auf den Rücken zu drehen, schiebt ihr seine Jacke unter den Kopf, legt ihr die Hände auf den Bauch. »Man wird uns sicher bald helfen.«
»Der Flieger ist weg!«, sagt der Mann wütend. »Das Geld hole ich mir wieder! Portugiesische Inkompetenz. Nichts funktioniert in diesem Land!«
»Ihre Schimpferei nützt jetzt auch nichts!«, sagt der Surfer. »Helfen Sie lieber Ihrer Frau!«
»Die soll sich zusammenreißen. Uns gefällt es hier auch nicht.«
»Wenn man in einer Tube vom Brett fällt und die Wassermassen einen überrollen, dann geht es ums Atmen«, sagt der junge Mann. »Bloß nicht in Panik geraten!«
»Sie haben gut reden«, die Stimme der Frau ist kaum zu verstehen.
»Warten Sie, ich gebe den Rhythmus vor«, sagt der Surfer. »Ein, aus! Ein, aus! Zählen Sie: einundzwanzig, zweiundzwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig! Tief in den Bauch atmen! Geht`s?«
»Ja«, sagt die Frau und richtet sich halb an der Wand auf.
»Verdammt noch mal!«, sagt der Mann und haut auf die Knöpfe. »Die müssen doch merken, dass ein Fahrstuhl feststeckt. Ich werde meinem Anwalt … «
»Hör auf zu brüllen«, sage die Frau leise. Sie schaut den Surfer an. »Danke!«
Die nächsten zwanzig Minuten verbringen die drei Menschen auf dem Boden sitzend im Dunklen. Die ruhige Stimme des jungen Mannes, der unbeirrt weiterzählt, gleichmäßige Atemzüge. Plötzlich wird es wieder hell und der Fahrstuhl ruckt an.
In der oberen Flughafenhalle herrscht gespenstische Stille. Schweigend sitzen die Menschen auf Bänken, Stühlen und Gepäckstücken. Die jungen Frauen hinter den Eincheck-Schaltern bewegen sich wie Schlafwandlerinnen.
Ja, die Maschine von Lissabon nach Düsseldorf ist pünktlich gestartet. Ja, der Start verlief problemlos. Warum das Flugzeug kurz hinter der spanischen Grenze vom Radar verschwand, kann niemand erklären. Es wurde kein Funkspruch abgesetzt . Die Luftfahrtbehörde befürchtet das Schlimmste.
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