Fitter Silberschopf sucht Mann mit Fahrrad

Prima, dachte Gernot, während er die Partnerschafts-Anzeigen im »Zeitmagazin« überflog. Kurz und knackig. Nicht wieder so eine nervtötende Plaudertasche, die einen Partner sucht, den sie mit ihrem Mitteilungsbedürfnis zum Wahnsinn treibt.
Elisabeth war vor fünf Jahren gestorben. Nach der anfänglichen Erleichterung, sein Leben nun ganz nach seinen Bedürfnissen gestalten zu können, war eine Leere entstanden, die ihm die Zukunft grau und trostlos erscheinen ließ. Seinen besten Freund hatte er im letzten Sommer begraben müssen, der Sohn war schon als junger Mann nach Australien ausgewandert, sodass er sich einsam fühlte. Eine neue Frau in seinem Leben, warum nicht? Nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte, schrieb er am nächsten Morgen:
»Bin 72 und besitze ein E-Bike!« Er schickte den Brief unter der angegebenen Chiffre an »Die Zeit« und gab seine E-Mail-Adresse an.
Silberschopf antwortete schnell. Sie mailten ein paar Mal hin und her, dann trafen sie sich. Das Künstlercafé in der Düsseldorfer Innenstadt hatte Edith vorgeschlagen. Sie übernahm von Anfang an die Initiative. »Ich bin die Edith«, sagte sie und streckte die Hand aus, als er zur verabredeten Zeit etwas verlegen vor ihrem Tisch stand, ´Die Zeit` unter den Arm geklemmt.
»Wir können uns ja duzen. Oder hast du was dagegen?«
Er stutzte, runzelte die Stirn und sagte schließlich: »Natürlich nicht. Ich bin Gernot, wie du sicher schon erraten hast.«
»Hallo, Gernot«, sagte Edith. »Wie schön, dich kennenzulernen.«
Sie fanden sich sympathisch, das heißt, Edith wusste sofort, dass Gernot der Richtige war. Groß und schlank war er – sie hatte in ihrem Leben nur große, schlanke Männer gehabt – sein Haar war weiß und lag dicht und widerspenstig auf seinem runden Schädel. Er war braun gebrannt, seine Augen blickten freundlich, und sein weißes Gherardi-Hemd und die dunkle Hose von Cucinelli zeigten ihrem geübten Blick, dass er nicht unvermögend war. War Gernot tatsächlich mit dem E-Bike gekommen?
»Was möchtest du trinken? Ich nehme einen Aperol!«
Er sagte »Lieber einen Milchkaffee. Ich trinke vor dem Abendessen keinen Alkohol«, und sie bekam hektische Flecken auf den Wangen.
«Du hast Recht. Für mich auch einen Milchkaffee! Schließlich bin ich keine Alkoholikerin.«
Ihr Lachen war hell und hoch, sehr weiblich, vielleicht ein bisschen zu schrill. Ihre Augen blitzten, und er dachte, ihr Aussehen übertraf noch das Foto, das sie ihm gemailt hatte. Die silbergrauen Haare waren lockig und kunstvoll hochgesteckt, ihre schräg stehenden blauen Augen gaben ihrem feinen Gesicht eine exotische Note. Der Mund war vielleicht ein wenig klein und die Lippen schmal, aber die Zähne strahlten in makellosem Weiß – eine erstklassige Zahnarztarbeit, dachte er -, wenn sie ihn anlächelte. Und das tat sie oft und gerne.
Sie hatte schon am Tisch gesessen, als er hereingekommen war, aber dass sie zierlich und schmal gebaut war und in ihrem hellen Seidenkleid gut – vielleicht ein bisschen zu jugendlich – angezogen war, hatte er gleich bemerkt. Die Hände, ja, die Hände waren faltig und von Altersflecken übersät. Aber was erwarte ich denn, dachte er, und sah auf seine braunen Pranken mit den hervorstehenden Adern.
»Du hast viel gearbeitet mit deinen Händen«, sagte sie und lächelte. »Das sieht man gleich.«
Und er erzählte von seinem Haus am Stadtrand mit dem großen Garten, dessen Blumenpracht sich sehen lassen könne. Bienenvölker habe er auch. Sein Honig würde ihr sicher gut schmecken. Sie zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Oder magst du keinen Honig?«
»Doch, doch«, beeilte sie sich zu sagen. »Aber mich hat vor Jahren einmal eine Biene gestochen und ich hatte Quaddeln am ganzen Körper. Vielleicht bin ich allergisch.«
»Glaube ich nicht«, sagte er und nahm ihre Hand. »Das sind ganz wenige Leute, nur vier Prozent der Bevölkerung, die leichten Fälle mitgerechnet. Ich bin schon öfter gestochen worden, aber nie ist was passiert. Du hältst dich einfach von den Bienen fern und genießt meinen Honig. Außerdem liegt das Notfallbesteck mit einer Adrenalinspritze griffbereit im Medizinschrank.«

Für ihren ersten gemeinsamen Urlaub buchten sie ein Fünf-Sterne-Hotel auf Teneriffa. Edith hatte eine hübsche Garderobe eingepackt. Schicke Kleider, Röcke und Blusen, mit denen sie Aufsehen erregte, wenn sie an seinem Arm majestätisch wie eine Prinzessin die breite Treppe zur Lobby hinunterschritt. Auch die hohen Absätze waren kein Problem für sie. Sie waren ein schönes Paar, und Gernot genoss die bewundernden Blicke der anderen Hotelgäste. Am Ende des Aufenthalts schlug sie vor, in sein Haus zu ziehen. »Probehalber«, wie sie sagte. Er stimmte zu.
Gernot war Frühaufsteher, immer schon. Sobald es im Frühjahr heller wurde, ging er durch den Garten, sah nach den Bienen, bewunderte den Pfau des Nachbarn, der schon um diese Uhrzeit – gefolgt von vier unscheinbaren grünlich-braunen Hennen – durch das Anwesen stolzierte. Wenn er balzte, schauten aus seinem Federrad Hunderte von grün-blau schillernden Augen, umgeben von gelben Kreisen. Ein  Schwanz voller Sonnen, dachte Gernot hingerissen. Warum gibt der Hahn sich solche Mühe zu gefallen? Er hat doch vier Hennen zur Auswahl. Er holte die Zeitung an der Gartenpforte, ging langsam zurück ins Haus und stellte die Kaffeemaschine an. Mit dem heißen Becher setzte er sich in den Korbsessel im Wintergarten und schlug die Zeitung auf.
Doch kaum blätterte er die erste Seite um, da hörte er Ediths muntere Stimme im Flur.
»Halihalo, Mama kommt und macht Frühstück!«
Im goldbedruckten Kimono schwebte sie heran, stellte sich hinter ihn und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.
»Morgen, mein Liebling, bist du schon verhungert? Ich gehe sofort in die Küche und koche dir ein schönes Eilein. Schwarzen Kaffee hast du dir geholt, du Böser, das ist nicht gut für den Magen, hat dir der Doktor das nicht gesagt? Wenn du einfach nur ein bisschen länger schlafen würdest, dann könntest du dich an den gedeckten Tisch setzen. Ich habe meine Männer immer bedient. Mein ganzes Leben lang. Über ein gutes Frühstück geht nichts, sagte meine Mutter. Morgens essen wie ein Kaiser, mittags wie ein König, abends wie ein Bettelmann…
Worte flossen wie ein nie versiegendes Rinnsal aus ihrem Mund. Holt sie denn nie Luft, dachte Gernot. Sie ignorierte auch seinen Einwand, dass er nicht hungrig sei, überhaupt keine Eier am frühen Morgen wolle und Brot mit Marmelade vorziehe. Hatte sie schon im Urlaub so viel geredet? Sie hüpfte in die Küche, ließ die Tür offen, klapperte mit Tellern und Tassen und plapperte ununterbrochen weiter. Resigniert faltete er die Zeitung zusammen.
»Weisst du, Gernot, meine Cousine mütterlicherseits hat Krebs. Die Arme! Sie ist zehn Jahre jünger als ich. Die Ärzte denken, es ist ein Lungenkarzinom, dabei hat sie nie geraucht. Die Tochter wohnt in München, ich hoffe, die kümmert sich um ihre Mutter.«
»Hoffe ich auch«, sagte Gernot, der die Frau nicht kannte, und guckte heimlich wieder in die Zeitung.
»Gernot, ich rede mit dir. Wir sind nicht allein auf der Welt. Das Leiden anderer tangiert auch uns.«
Gernot zuckte die Schultern. »Ja und, was soll ich tun? Du hast doch gesagt, die Tochter kümmert sich.«
»Habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich hoffe, die Tochter kümmert sich. Aber heutzutage weiß man ja nie. Undank ist der Welten Lohn. Da hat man so viel für die Kinder getan und am Ende lassen sie einen im Stich.«
»Du hast doch gar keine Kinder«, Gernot riss sich von der Zeitung los.
»Aber du hast einen Sohn. Warum ist er nach Australien gegangen, statt sich um seinen Vater zu kümmern?«
»Um mich muss sich keiner kümmern. Ich komme allein gut klar.«
»Ich kümmere mich aber um dich, Gernot. Ich will, dass es dir gutgeht.«
»Hmm«, sagte Gernot.
»Gernot, nie hörst du mir zu!«
»Doch!«
»Was doch?«
»Ich höre dir zu!«
»Wir sollten dankbar sein, dass wir so fit sind!«
»Wem gegenüber? Ich dachte, du bist nicht religiös.«
»Bin ich auch nicht! Ich will einfach etwas abgeben von meinem Glück!«
»So, so«, brummte Gernot.
»Jeder ist anders«, sagte sie. »It takes all kinds to make the world.«
»Was soll das jetzt?«
»Das ist Englisch. Mein verstorbener Mann sagte das immer!«
»Ich verstehe Englisch!«
»Übrigens, Gernot. Apropos mein verstorbener Mann. Meinst du nicht, es wäre besser, wenn wir unsere Beziehung legalisieren würden? In unserem Alter.«
»Eben«, sagte Gernot. «Eine Hochzeit in unserem Alter, das ist doch lächerlich.«
»Und was ist, wenn du stirbst?«, fragte Edith.
»Wieso sollte ich auf einmal sterben?«
»Jeder stirbt mal«, sagte Edith.
»Eben«, sagte Gernot. Du könntest auch die Erste sein.«
»Wieso ich? Ich bin zehn Jahre jünger als du.«
»Was hat das denn mit dem Alter zu tun? Du sagst doch selbst, die Cousine mit dem Lungenkrebs ist noch jung. Ich habe übrigens auch nie geraucht.«
»Trotzdem könntest du Lungenkrebs kriegen.«
»Was willst du mir eigentlich sagen?«
»Alle meine Männer haben mich geheiratet.«
»Wie viele waren es denn?«, fragte Gernot. »Ich dachte, einer.«
»Nein«, sagte Edith. »Zwei. Beides nette, gesunde Männer. Schlank, sportlich, groß. So wie du. Sie sind einfach weggestorben.«
»Wie weggestorben? Woran sind sie gestorben?«
»Ach«, sagte Edith und wischte sich über die Augen. »Es war alles so traurig. »Günther hatte schon mit 40 einen Herzinfarkt. Ganz plötzlich. Er brach einfach beim Fahrradfahren zusammen.«
»Und Nummer zwei?«
»Sei nicht so herzlos, Gernot. Friedhelm habe ich sehr geliebt. Er war ein so gutaussehender Mann. Er ist erstickt, einfach erstickt. An einer Fischgräte. Schau mich doch nicht so an. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Der Notarzt kam zu spät.«
Nachdenklich ging Gernot in den Garten. Er wollte nach den Bienen sehen.
Als er zurückkam, lag Edith auf dem Boden, mit beiden Händen umklammerten sie den Hals.
»Eine Biene«, keuchte sie.
„Wohl eher eine Wespe“, murmelte Gernot.

Er ging aus dem Zimmer, holte das Notfallbesteck aus dem Medizinschrank, ging zum Gartentor und warf es in den Container am Straßenrand.


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