Abgerutscht

Es war voll in der Altstadt. Auf dem Marktplatz blinkten die elektrischen Kerzen in der Dämmerung. An den mit Tannenzweigen geschmückten Holzbuden drängten sich die Menschen, aßen Wurst und Schaschlik mit Pommes rot und weiß, schlürften Glühwein an runden Stehtischen. Kleine Kinder starrten sehnsüchtig auf die tutende Eisenbahn und quengelten, bis Mutter oder Vater nachgab und dem Nachwuchs eine Fahrt spendierte. Zeit geschunden für einen zweiten Glühwein. Aus Lautsprechern dudelte »O du fröhliche«.
»Komm, Udo, wir gehen«, sagte eine ältere Frau zu ihrem Mann. »Ganz schön hier, aber mir reicht es.«
»Mir auch«, sagte der Mann, trank sein Glas leer, warf die Pommesschalen in den überquellenden Abfallbehälter und nahm den Korb mit dem Wochenendeinkauf hoch.
»In den Buchladen gehen wir nächste Woche, dann ist es nicht so voll.«
Sie bogen in den kleinen Fußgängerweg zum Stadtgraben ein, wo ihr Auto geparkt war. Sofort ließ der Lärm nach, es waren weniger Leute unterwegs und sie schlenderten an den Fachwerkhäusern vorbei, die so schief standen, dass man Angst hatte, die Balken würden nachgeben.
Den alten Mann mit dem großen Rucksack auf dem Rücken nahmen sie erst wahr, als er taumelte und vor ihnen auf das Pflaster schlug. Es war niemand in der Nähe, der hätte helfen können, also sahen sie sich an, gingen zu dem Mann und beugten sich über ihn. Er blutete stark aus der Nase, war aufs Gesicht gefallen, ohne sich mit den Händen abzustützen.
»Der ist bewusstlos«, sagte die Frau und rüttelte an seiner Schulter. »Hallo, hallo, können Sie mich hören?«
Der alte Mann hob den Kopf, wischte sich mit einer schmutzigen Hand über die Nase, verteilte das Blut übers Gesicht.
»Nich so schlimm«, lallte er und versuchte hochzukommen. »Nich so schlimm. Nur ein bisschen betrunken! Nur ein bisschen.« Er ließ sich auf das Pflaster zurücksinken.
»Sie können hier nicht liegenbleiben«, sagte die Frau. »Es ist zu kalt. Kommen Sie, wir helfen Ihnen hoch!«
Das Ehepaar versuchte, dem Alten aufzuhelfen. Erfolglos. Er war viel zu schwer und ließ sich hängen.
»Wenigstens aufrecht hinsetzen«, sagte Udo. »Hilf mir, Annette!« Gemeinsam hievten sie ihn in eine sitzende Position. Er lehnte jetzt an die Unterschenkel seiner Helfer, drohte allerdings wieder umzukippen.
»Nur betrunken«, sagte der Alte. »Nich so schlimm. Bisschen betrunken.«
»Ganz schön betrunken«, sagte die Frau. »Ich werde einen Krankenwagen holen.« Sie zückte ihr Smartphone.
»Ich mach das schon«, rief ein Mann im Overall, der seinen Lieferwagen auf den Parkstreifen manövriert hatte und ausgestiegen war.
»Die Klinik ist in der Nähe.« Er tippte eine Nummer ein.
»Sie sind ein guter Mensch, so ein guter Mensch«, sagte der Betrunkene zu der Frau. »So ein guter Mensch!«
»Na ja«, sagte Annette.
»Ich bin Künstler«, sagte der Alte. »Ich bin Maler.«
»Wie schön«, sagte die Frau. »Mein Mann malt auch.«
»Dann sind wir ja Kollegen«, sagte der alte Mann und versuchte, Udo die Hand zu reichen, wobei er wieder umkippte und auf das Pflaster schlug. Der Lieferwagenfahrer war zur Kreuzung vorgegangen, um den Krankenwagen einzuweisen. Noch hörte man keine Sirene. Kalt war es, saukalt.
»Sechzehn Jahre war ich trocken«, sagte der Alte. »Sechzehn Jahre!«
»Wäre besser gewesen, Sie hätten durchgehalten«, sagte Annette.
»Da haben Sie Recht, verehrte Dame«, sagte er und nickte. »Da haben Sie Recht.«
Udo zerrte an der schmutzigen Jacke des verletzten Mannes und bekam ihn wieder in eine sitzende Position. Er drückte die Knie gegen den Rücken des Betrunkenen, damit er nicht wieder umfiel. »Wir warten, bis der Krankenwagen kommt.«
»Ich war ein guter Vater«, sagte der Mann. »Hat man Sohn neulich noch gesagt. Ein guter Vater. Wenn er mal einen Sohn hat, hat er gesagt, hat mein Sohn gesagt, will er auch so ein guter Vater sein wie ich.«
»Schön für Sie«, sagte Annette und schaute in die Richtung, aus der der Krankenwagen kommen sollte.
Ein Mann kam aus dem Haus gegenüber, mit einem Stuhl unterm Arm.
»Wollen wir ihn draufsetzen?«, fragte er.
»Schaffen wir nicht«, sagte Udo. »Er ist zu schwer!«
»Ich hole eine Decke«, sagte der Nachbar, eilte ins Haus kam mit einer Kamelhaardecke wieder.
»Die wird blutig«, sagte Udo.
Der Mann zuckte die Achseln und deckte den Verletzten zu.
»Danke«, lallte der Betrunkene. »Nette Menschen, alle!«
Der Krankenwagen kam und kam nicht.
»Die wissen, was sie erwartet. Die haben dringendere Fälle«, sagte Udo. »Aber hier auf dem Boden wird er erfrieren.«
»Mir is nich kalt«, sagte der Betrunkene und versuchte, sich wieder hinzulegen.
»Bleiben Sie bloß sitzen«, sagte der Mann mit der Decke. »Nicht wieder umfallen.«
Eine junge Frau kam mit zwei Retrievern aus dem Haus vor ihnen. Sie stellte sich vor den Alten, der die Hunde begeistert anschaute.
»Sie kenne ich doch«, sagte die junge Frau.« Sie sitzen doch immer in der Kneipe Zur goldenen Ente.“
»Genau«, sagte der Alte. »Da komm ich gerade her! Und nu bin ich umgefallen.«
»Und Sie machen da Musik«, sagte die junge Frau.
»Ich bin Künstler«, sagte der Mann. »Ich spiele Schifferklavier.«
»Und ganz gut«, sagte die junge Frau.
Der alte Mann strahlte sie an.
»Ich danke Ihnen«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. »Wie heißen die Hunde!«
»Max und Moritz«, sagte die Frau.
»Schöne Namen«, sagte der Mann. »Kommen Sie mit ins Krankenhaus?«
»Nein«, sagte die Frau. »Ich hab ja die Hunde.«
»Bitte, bitte«, sagte der Mann.
Nein«, sagte die Frau und lächelte. »Die Hunde. Ich muss auf die Hunde aufpassen. Aber ich bleibe, bis der Krankenwagen kommt.«
»Schade«, sagte der Alte und versuchte, sich wieder hinzulegen.
Aus der Ferne ein Martinshorn.
»Gott sei Dank«, sagte Udo, dessen Knie von der Anstrengung, den Verletzten im Gleichgewicht zu halten, zitterten. »Wurde ja auch Zeit.«
Langsam näherte sich der weiße Wagen. Zwei Sanitäter stiegen aus, zogen Handschuhe an.
Der ältere Sanitäter kniete sich zu dem Betrunkenen.
»Na, mein Lieber, was ist los?«, fragte er.
»Betrunken«, sagte der Alte. »Nich so schlimm.«
»Wir nehmen Sie erst mal mit ins Krankenhaus«, sagte der Sanitäter und winkte seinen Kollegen heran.
»Was werden Sie mit ihm machen? Hat er eine Wohnung?«, fragte Annette.
Der junge Sanitäter zuckte die Schultern. »Nicht unser Bier! «


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