New York, New York
N.Y. 1966
Sie war 19. Seit ein paar Tagen. Das Abitur lag hinter ihr. Ein guter Abschluss. Kein sehr guter. Dabei hatte sie in Mathe noch Glück gehabt.
»Schauen Sie nicht aus dem Fenster«, hatte der Mathe-Lehrer noch vor den Prüfungen gesagt. »Noch haben Sie Ihr Abitur nicht in der Tasche.«
Er schien sie trotzdem zu mögen. Sie hatte sich zusammengerissen. Gebetet, dass sie nicht in Bio geprüft würde. Unfähig, die Blätter der Buche von denen einer Linde zu unterscheiden. Konnte die Blödeste in der Klasse. Sie nicht. Von Chemie ganz zu schweigen. Zahl oben oder Zahl unten. Wieso? Warum? Ein Buch mit sieben Siegeln.
Und nun saß sie im Flieger nach New York. Ihr Vater hatte zur Belohnung eine Amerikareise spendiert. Propellermaschine ab Frankfurt. Die Eltern hatten sie hingebracht. Von keiner Seite Tränen. Sie waren stolz auf ihre – wie sie meinten – kluge Tochter, die sich mit knapp 19 traute, allein in die Neue Welt zu reisen. Zu Onkel und Tante nach Michigan. Aber vorher – eine Woche New York! Sie hatte eine Adresse. Von Freunden von Freunden von Freunden der Eltern.
Zwischenlandung in Reykjavik. Turbulenzen. Das Flugzeug wurde durchgeschüttelt.
»Stürzen wir ab?«, fragte sie die alte Dame neben ihr. Die nahm die Augenbinde ab, die sie schon vor Beginn des Trans-Atlantik-Flugs angelegt hatte, blinzelte aus dem Fenster.
»Ich glaube nicht«, sagte die alte Frau, tätschelte beruhigend ihre Hand. »Dort unten, schauen Sie, die Lichter von Reykjavik.«
Landeanflug. Shuttle ins Hotel. Moderner Bau. Wände und Böden aus Holz. Cooles Design. Sehr skandinavisch.
Der Mann am Nebentisch war attraktiv. Suchte Augenkontakt. Lud sie zu einem Drink an der Bar ein. Nach zwei Monaten in den Staaten sei er auf dem Rückflug nach Frankfurt, sagte er. Ob sie schon einmal in den Staaten gewesen sei? Sie verneinte, fühlte sich geschmeichelt, dass der ältere Mann sich für sie interessierte. Ging mit auf sein Zimmer. Es kam zu Zärtlichkeiten. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Als er merkte, dass sie noch Jungfrau war, schickte er sie zurück in ihr Zimmer. Das Risiko war ihm offensichtlich zu groß. Er hatte keine Kondome dabei. Sie war erleichtert. Gleichzeitig frustriert. War sie nicht attraktiv genug?
Stadtrundfahrt am nächsten Morgen. Baden in heißen Quellen. Schnee am Beckenrand. Abends dann der Flieger zum John F. Kennedy Airport. Sie landeten am späten Vormittag.
Sie fuhr mit dem Bus zur Central Station. Wahnsinnsverkehr auf den Straßen. Die Halle schwarz vor Menschen. Unablässig rollten Busse hinein, fuhren ab. Sie fischte nach dem Zettel mit der Telefonnummer. Drüben in New Jersey. Stand Schlange vor der Telefonzelle mitten auf der Fifth Avenue. Sie wählte die Nummer vom Zettel, hörte die Stimme des Operators, den breiten amerikanischen Akzemt, verstand kein Wort. So hatte ihre Englischlehrerin nicht gesprochen. Sie hatten Shakespeare gelesen. »I Want …, could you …!«, stammelte sie. Die Antwort eine Häufung von breiigen Lauten. War das Englisch? Sie fühlte Panik in sich hochsteigen, ließ den Hörer zurück auf die Gabel fallen, stieß die Glastür auf. Sekunden später klingelte es. Ein Rückruf in der Telefonzelle? Gab es sowas? Für sie? Ihr Herz klopfte, sie raffte allen Mut zusammen, nahm den Hörer. »Love, please listen …«, sagte die Stimme von vorhin, aber diesmal ganz langsam und deutlich, im Zeitlupentempo. »Keep calm, love! I am going to help you.« Sie stotterte, »Please, connect … telephone number …« Sie las die Nummer der Freunde von Freunden von Freunden vom Zettel. »OK, love, I`ll do my very best.« Sie hörte das rasselnde Drehen der Wahlscheibe. Dann ein Tuten. Ein Hörer wurde abgenommen. Eine Nummer sauste an ihr Ohr.
»Ich bin, ich bin …« Sie war den Tränen nahe. Von wegen Weltenbummlerin. Sie konnte doch jetzt nicht ins Telefon schluchzen. Aber die Stimme wurde freundlich, sprach Deutsch. »Hallo, Darling. Wir haben schon auf deinen Anruf gewartet. Wo bist du?«
Und dann war auf einmal alles ganz einfach. Sie bekam die richtige Busnummer und fuhr von der Central Bus Station direkt nach New Jersey. Die Gasteltern standen wartend an der Haltestelle und nahmen sie in den Arm. »Du traust dich was. So ganz allein nach New York! You are very self-sufficient, my dear!“
War sie das wirklich?
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