Nach dem Konzert

Minutenlanger Applaus. Bravo-Rufe. Trampeln. Cecilia Bartoli wird immer wieder auf die Bühne zurückgeklatscht. Singt eine Zugabe, zwei. Auch das Orchester steht immer wieder auf, verbeugt sich, wenn die kleine temperamentvolle Ada Pesch vom Stuhle springt und den Geigenbogen in die Luft wirbelt. Als sich endlich die Tür zur Garderobe hinter der Diva und den Musikern schließt, sind wohl beide Parteien erschöpft: die Künstler vom Singen und Musizieren, die Menschen im Saal vom Zuhören und Applaudieren.
Beschwingt geht Sabrina durch die Vorhalle zur Garderobe, um sich ihren braunen Webpelzmantel vom Haken zu holen und durch Kälte und Wind zum Bahnhof zu eilen. Den Zug will sie  in dieser Nacht unbedingt erreichen
Es wird knapp mit der Zeit und sie ist froh, als eine Bekannte sie am Ausgang anspricht und ihr anbietet, sie im Auto mit nach Bremen-Nord zu nehmen, denn sie wohne ja »gleich um die Ecke«.
Draußen ist es winterlich kalt, ein leichtes Schneetreiben hat eingesetzt, und Sabrina ist dankbar, sich in ein warmes Auto kuscheln zu können. Vor ihrer Haustür angekommen, bedankt sie sich überschwänglich, verspricht, sich demnächst zu revanchieren und winkt dem davonfahrenden Auto noch kurz nach, ehe sie in ihrer Manteltasche nach dem Türschlüssel kramt. Und kramt. Und kramt. In ihrer Verzweiflung das Futter beider Taschen nach außen dreht. Nichts. Gar nichts. Noch nicht einmal eines ihrer heißgeliebten Werther`s Original Sahnebonbons ist zu finden. In ihrer Verzweiflung stülpt sie auch die kleine schwarze Theatertasche aus. Zum Glück funktioniert der Bewegungsmelder vor ihrer Tür, so dass sie nicht auf Knien vor der Türschwelle herumrutschen muss, um im Dunklen Portemonnaie, Lippenstift, Kalender und Haarbürste wieder einzusammeln. Nur – der Hausschlüssel ist nicht in dem Täschchen, eine Tatsache, die ihr durchaus bewusst war, ehe sie sie auskippte. Schließlich hat sie ja die Haustürschlüssel bewusst in der Manteltasche gelassen, da das kleine Luxus-Teil sowieso schon platzt mit seinem vollgestopften Innenleben. Fluchend packt sie alles wieder ein. Was nun? Ihr Mann ist auf einem Ärzte-Kongress, die Tochter schläft bei einer Freundin (Freundin hat die 16-Jährige doch gesagt, oder? Auch egal). Der Sohn ist zum Sommersemester ausgezogen. Nun steht sie hier draußen mutterseelenallein in der Kälte herum. Sie möchte heulen vor Verzweiflung und Wut.
Dann aber fällt ihr ein, dass ihr ordentlicher und weitblickender Mann ihr neulich gesagt hat, wo der Ersatzschlüssel versteckt ist. Hat er. Aber was hat er gesagt? Sie hat – wie so oft – nicht wirklich hingehört, ist mit den Gedanken ganz wo anders gewesen. Vielleicht fällt es ihr wieder ein, wenn sie ums Haus geht. Mit ihren Stöckelschuhen balanciert sie vorsichtig über den glatten Boden – sie wird sich doch jetzt nicht noch zu allem Überfluss die Beine brechen -, umrundet hinkend den großflächigen Bungalow und kommt vorne auf die Einfahrt zurück. Merde, wo ist nur….und da – ein Geistesblitz. Irgendwas mit Gartenhaus hat er gesagt. Ja, Gartenhaus.  Sie ist sich ganz sicher. Aber wahrscheinlich hat eins der lieben Kinder den Schlüssel sowieso schon benutzt und ihn nicht wieder hingehängt. Bei d e r Mutter, würde ihr Mann sagen. Seine Gene seien es jedenfalls nicht, die immer wieder das häusliche Zusammenleben chaotisierten.
Auf jeden Fall zurück zum Gartenhaus und nachschauen. In einem kleinen Marmeladenglas in der Werkzeugkiste, hat er gesagt. Genau! Nach kurzer Zeit hält Sabrina tatsächlich das Glas in der Hand, schüttelt es, ja, gottseidank, der Schlüssel rappelt gegen die Glaswand. Sie kann ihr Glück kaum fassen.
Mittlerweile sind ihre Hände trotz der Handschuhe eiskalt, sie fühlt ihre Finger kaum noch. Sie dreht am Deckel des Marmeladenglases. Geht nicht. Der Deckel bewegt sich keinen Millimeter. Wie rum ? Rechts? Nein, links? Schiet, warum kann sie sich das nie merken.Sie zieht die Handschuhe aus. Dreht so heftig sie kann, bis sie glaubt, ihr Kopf platzt. Nichts rührt sich. Entnervt schmeißt sie das Glas auf die geflieste Terrasse. Das ist die Lösung: Es kracht, Glas splittert in alle Richtungen, der Schlüssel rutscht über die Steine.
Im selben Moment wird das Fenster im Nachbarhaus geöffnet und eine keifende Stimme schreit:
»Hilfe! Einbrecher! Hilfe!.«
Es gibt Momente im Leben, denkt Sabrina, da würde man gerne mit Rumpelstilzchen tauschen. Auf den Boden stampfen und im Loch verschwinden.
»Ich bin es, Frau Schnarrenberger. Mir ist nur eine Wasserflasche aus der Hand gefallen.« Ob die das schluckt, diese neugierige Alte?
»Ach, Sie sind das, Frau Lüders! Ich dachte schon, es seien Einbrecher. Nächstes Mal bitte ein bisschen leiser, wenn Sie so spät nach Hause kommen. Es gibt Menschen, die um diese Zeit schlafen.«
»Entschuldigung, Frau Schnarrenberger. Soll nicht wieder vorkommen.«
Ein Fenster knallt zu und Sabrina schlägt sich auf den Mund, um nicht laut »alte Hexe« hinterherzurufen. Dabei betont die Polizei doch immer, die beste Prophylaxe gegen Einbruch sei eine kontrollierende Nachbarschaft. Die hat sie.

Am nächsten Morgen ruft Sabrina im Theater an, um herauszufinden, ob man die Schlüssel gefunden hat. Die energische Frau am Telefon lässt sie gar nicht zu Wort kommen.
»Sie wollen sicher den Mantel zurückgeben. Eine unschöne Sache. Die Besitzerin hat gestern Abend noch eine volle Stunde an der Garderobe gewartet, weil sie dachte, der Irrtum müsste doch bemerkt werden.
»Falscher Mantel?«, stottert Sabrina. »Meine Schlüssel….«
»Ja, ja, die sind auch im Mantel!«
Völlig verwirrt lässt sich Sabrina die Telefonnummer der angeblich rechtmäßigen Besitzerin des Kunstpelzes geben. Eine Studienrätin vom Alten Gymnasium. Die ist gar nicht »amused«.
»Das merkt man doch, wenn man einen falschen Mantel anzieht.«
»Meiner ist doch auch braun. Und Kunstpelz und dreiviertellang.«
»Ihr Mantel sieht völlig anders aus. Ist kürzer. Völlig anderes Braun, viel dunkler«, sagt die Frau empört. »Sind Sie blind?«
»Ein bisschen«, stammelt Sabrina. „Meine Beobachtungsgabe ist nicht die beste. Ich komme sofort vorbei und bringe Ihnen den Mantel.«
»Ich habe alle Bonbons gelutscht, die in …«, hört Sabrina sie noch sagen, ehe sie auflegt.
Sie hetzt los, kauft einen riesigen Blumenstrauß und macht sich zerknirscht auf den Weg in die Innenstadt. Meine Güte, wie peinlich. Und wenn sie erst beichten muss, dass sie im nächsten Halbjahr Kolleginnen sein werden.


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