Kehrwieder Eck
Die Sonne ist durchgebrochen, hat sich aus den dunkel dahinjagenden Wolken hervorgekämpft und malt helle Flecke auf die Holzplatte. Wir sitzen am runden Bistrotisch und rühren in unserem Latte Macchiato. Bitter und süß schmeckt der Espresso, den wir mit einem Strohhalm durch die aufgeschäumte Milch schlürfen. Wir haben uns von den Landungsbrücken durch Wind und Kälte weitergekämpft zu diesem kleinen Lokal am Kehrwieder Eck, zu der Spitze der Speicherstadt, die hinausragt in das Hafengebiet. Die Scheiben des Cafés gehen hinunter bis zum Boden und die wenigen Gäste genießen einen freien Blick auf die Wuling im Hamburger Hafen.
Das Wasser läuft ab, der Wind kommt aus Nordwest, so dass die Oberfläche kabbelig ist, kurze steile Wellen, vor ein paar Minuten noch dunkelgrau wie der Himmel, nun bläulich schimmernd mit vereinzelt weißen Hauben auf der Dünung. Vom anderen Elbufer aus hat die Sonne ein helles Dreieck auf das Wasser gelegt, wobei die schimmernde Spitze sich mit der ins Wasser ragenden Ecke der Kaimauer trifft. Zwei gleichschenkelige Dreiecke, die an den Spitzen aneinanderhängen und doch in ewiger Bewegung sind, abhängig vom Spiel des Windes, der die Wolken in rascher Folge über den Himmel treibt.
Auf der linken Seite der Kaimauer hat ein Tankboot festgemacht mit weißem Aufbau und grauen, kreuz und quer laufenden Rohren. Zwei Männer, beide in blau-rotem Ölzeug und schwarzen Pudelmützen, kontrollieren die Ventile. Auf und ab tanzt das Boot im Wasser, die Männer gehen routiniert breitbeinig über das Deck, in den Händen große Schraubenzieher und Rohre, über ihnen das Krächzen der Möwen, die nicht aufgeben, nach Essbarem Ausschau zu halten. Am andern Ufer ein Industriegelände, offensichtlich eine Raffinerie mit grauen, runden Tanks und einem Gewirr von Röhren und Leitungen. Beschienen von der Sonne haben sie einen Teil ihrer Hässlichkeit verloren.
Etwas weiter nach Norden die beiden »Music-Halls« – das gelb-braune Zeltdach für den »Herrn der Löwen«, daneben mit silbrig glänzender Haube die Arena für »Das Wunder von Bern«. Beides Publikumsmagneten. Die Kraft der Bilder, die Gefühligkeit der eingängigen Melodien locken Jahr für Jahr Tausende von Touristen nach Hamburg. Sei nicht so arrogant, schelte ich mich, »Cats« hat auch dich beeindruckt und bei dem zu Herzen gehenden Hit »Memory« hattest du Tränen in den Augen, damals vor vierzig Jahren in Detroit.
Der Verkehr auf der Elbe ist turbulent, tief im Wasser liegende Binnenschiffe tuckern den Fluss hinauf und hinunter, Hafenrundfahrt-Boote schießen aus Seitenarmen, so dass der Betrachter den Atem anhält, weil er einen Zusammenstoß befürchtet. Unsinn, auch auf dem Wasser gibt es strenge Vorfahrtsregeln. Wie habe ich vor drei Jahren gezittert, als wir mit der alten »Zeehond« die Elbe aufwärts kreuzten, um den jetzt vor uns liegenden Yachthafen zu erreichen, in dem zur Zeit nur zwei einsame Boote vor sich hinschaukeln. Riesige Containerschiffe stampften in der Fahrrinne, Barkassen, Ausflugsboote, Fähren knatterten mit aufgedrehtem Diesel und drohendem Tröten von einem Ufer zum andern, dazwischen Hunderte von Seglern, die bei dem sommerlichen Wetter und steifer Brise ihren Sonntagtörn auf der Elbe machten. Nassgeschwitzt vor Anstrengung waren wir, als wir endlich in einer freien Box im Hafen anlegen konnten und die rauen Festmacherleinen durch unsere Hände glitten. Tagelang haben wir uns nicht mehr aus dem Hafen getraut, haben an Bord gesessen, begleitet von dem nähmaschinenartigen Brummen des kleinen Wasserflugzeugs. Ein älterer, freundlicher Pilot bot Rundflüge über den Hafen. Rauf, runter, rauf, runter, es schien alles so einfach und routiniert. Wie entsetzt waren wir, als wir zu Hause im Weser Kurier lasen, dass der Flieger abgestürzt war, alle drei Insassen tot.
Ich verdränge die düsteren Gedanken, schaue mir den gefakten Mississippi-Dampfer gegenüber an, alles in Weiß und Blau, riesige Schaufelräder – alles wohl Attrappe, aber sehr beliebt für einen sommerlichen Ausflug auf der Elbe. Huckleberry Finn- Feeling.
Weiter hinten die Landungsbrücken, leer die Stege und weit entfernt von den Fotografien in den Hafenkneipen, die die großen Ozeanriesen zeigen und Hunderte von Auswanderern und Touristen, die die Gangways zu den Schiffen bevölkerten. Fernweh ist noch zu spüren auf den Bildern und Abschiedsschmerz und jubelnde Wiedersehensfreude. »Junge, komm bald wieder …« Nein, das war nicht Hans Albers, das war Freddy Quinn. Die Musical-Helden von damals.
Auf dem östlichen Elbhang stehen neue mehrgeschossige Apartmenthäuser in elegantem Grau, eine Spitzenlage für die Anwohner, exklusiv und teuer. Darüber der graue, runde Turm von Sankt Michaelis, dem »Michel«, Wahrzeichen von Hamburg. Der Wind trägt den Klang der mittäglichen Glocken bis in die Speicherstadt. Vor einer Stunde haben wir noch auf der hölzernen Kirchenbank gesessen, haben über die Helligkeit des Raums, das strahlende Weiß der Wände gestaunt, dezentes Blattgold an den Rändern. Wir trinken den dritten Kaffee. Die Sonne hat sich wieder verkrochen. Der Wind pfeift durch die schmalen Kanäle der Speicherstadt. Ich ziehe den Reißverschluss am Anorak hoch, binde den Schal fest, zerre die Mütze über den Kopf. Der Sturm hat zugenommen, der salzige Geruch lässt die Nordsee ahnen. Vielleicht sollten wir doch in das Eisenbahnmuseum gehen. Dort ist es schön warm. Und leckere Currywurst gibt es dort auch.
4 600 Z.
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