Junge, komm nie wieder …
»Käpt‘n, backen und banken!«, Greta hängt sich über die kunstvoll gedrehten Tampen, die die Terrasse begrenzen, schaut hinunter auf die 27-Fuß Westerly, die am hauseigenen Steg sanft in den braunen Wellen der Schlei schaukelt, und winkt hektisch mit den Armen. Backen und banken, lächerlich. Das Essen ist fertig, basta.
Ein großer, bärtiger Typ im Overall, Elbsegler auf dem kahlen Kopf, eine brennende Pfeife schief im Mund, kniet auf dem Vordeck. Neben ihm steht eine Dose mit Klarlack und er pinselt sorgfältig Planke für Planke des Stabdecks ein. Der Mann hebt nicht einmal den Kopf, abgeschirmt hinter einer Wand von Seemannsliedern, die aus dem voll aufgedrehten CD-Player im Cockpit dröhnen. Resigniert lässt Greta die Arme sinken. Freddy Quinn singt »Junge, komm bald wieder«. Schiff und Mann sind in einen schalldichten Kokon gehüllt, da kommt ihre Stimme nicht durch.
Greta starrt noch eine Weile hinunter aufs Schiff, streicht mit einer schnellen Bewegung die grauen Strähnen hinter die Ohren, zuckt die Schultern. Junge, komm bald wieder?
sie konnte nicht genug von ihm kriegen, damals. Aber nun, nach fast vierzig langen Jahren mit Heiner, erwischt sie sich immer öfter bei dem Gedanken: »Junge, hau doch einfach ab. Mach dich vom Acker, nimm dein Boot und verschwinde. «
Sie humpelt ins Haus zurück. Ihr linkes Knie schmerzt heute höllisch, kein Wunder bei der kalten Nässe in den letzten Wochen. Ein paar Kilos weniger würde ihren Gelenken guttun, das weiß sie.
Sie lässt den Blick durch die Küche wandern. Ach was, Küche. Küchenzelle, höchstens. Bullaugen statt Fenster, viel zu wenig Arbeitsfläche, ein kleiner frei aufgehängter Herd, um die nichtvorhandenen Wellen auszugleichen, unpraktische Schränke mit Feststellschrauben für die Klappen, blauweißes Seemannsgeschirr, natürlich unzerbrechlich, blauweiß gestreifte Sitzkissen auf der harten Holzbank.
»Unsere Kombüse«, wie Heiner zu sagen pflegt, wenn er sich die Hände reibend an sie heranschleicht, ihr mit einem rauen Lachen seine Pranke auf den Hintern klatscht. »Na, ganz schön zugelegt in letzter Zeit. Ordentlich was in der Hand.«
Greta deckt den Tisch. Er wackelt ein bisschen, müsste abgezogen werden. Doch im Frühjahr hat Heiner keine Zeit. Er muss sein Segelboot startklar machen.
Gottseidank, seit es draußen etwas heller und wärmer ist, arbeitet er nicht im Haus. Die Titten der Galeonsfigur am Treppengeländer, deren Farbe durch das viele Antatschen längst abgeblättert ist, hat er im Winter neu vergoldet. Die beiden Steuerräder an den Wänden sind mit diesem ekligen Öl eingepinselt worden, dessen penetranter Fischgeruch dann tagelang im Haus hing und ihr Brechreiz verursachte. Aber im Moment kommt er noch nicht einmal dazu zu kontrollieren, ob sie auch die Seglerzeitungen fächerförmig auf dem Sideboard ausgebreitet hat
»Die perfekte Bordfrau«, sein Hochzeitsgeschenk. Mit strahlendem Lächeln hatte er das Buch in ihre Hände gelegt. Und sie, sie fühlte sich auch noch geehrt. Sie war ja so verliebt in ihren blonden, blauäugigen Heiner, der Akkordeon spielte und »Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise« sang, während sie sich an ihn kuschelte. Mit seinem volltönenden Bariton, ganz für sie allein. Ein Hans Albers aus Kappeln, ihr Verehrer, ihr Freund, ihr Mann. Neidische Blicke der Kolleginnen.
Dabei war er gar kein richtiger Seemann. Er hatte nie auf einem Schiff gearbeitet, weder auf einer der großen Skandinavienfähren noch auf den Touristenbooten, die die Schlei entlang tuckerten. Ein bisschen Jollensegeln und feucht-fröhliche Angeltouren mit seinen Kumpels, das war alles. Sie musste dann die stinkenden Fische zubereiten, die sie mit ihren toten Augen anglotzten. Die angeschickerten Männer wollten bekocht werden.
Nein, nach seiner Lehre als KFZ-Mechaniker war Heiner Hausmeister geworden, schlicht und ergreifend Hausmeister bei der St. Nikolai-Kirche in Kappeln. Handwerklich begabt war er ja. Da konnte man nicht meckern. Die dunkle, grazile Greta aus Hessen hatte sich damals als Erzieherin im kirchlichen Kindergarten beworben. Schon an ihrem ersten Arbeitstag, ihr alter Fiat 500 war kurz vor der Einfahrt zum Parkplatz zusammengebrochen, hatten Heiners geschickte Hände den Motor wieder zum Leben erweckt.
»Lass mich mal machen, lütte Deern«, hatte er gesagt und seine kräftigen Hände auf ihre Schultern gelegt. Sie hatte ihn zum Dank abends zum Italiener eingeladen. Nein danke, italienische Pasta mochte er nicht.
»Ich esse nur Seemannkost«, hatte er gesagt und sich in der verräucherten Eckkneipe nebenan sein Lieblingsessen bestellt: Labskaus.
Oh Gott, das blöde Labskaus. Es würde doch nicht angebrannt sein? Hektisch reißt Greta den Topf vom Herd.
Gott sei Dank. Nur ein bisschen angesetzt. Wenn sie die Pampe vorsichtig abhebt und in einen anderen Topf umfüllt, dann wird er vielleicht nichts merken.
Wie sie sie hasst, diese rosa Matsche. »Corned Beef, meine Liebe. Fleisch in Dosen. Die Überfahrt über den Atlantik hat früher Wochen gedauert.
Greta verdreht die Augen. Es gibt mittlerweile Kühlschränke, hätte sie schreien sollen. Hatte er wohl nicht mitbekommen. Der Depp.
Aber sie blöde Gans, sie fand ihn originell, ihren Heiner. Nicht so laut und oberflächlich wie die anderen jungen Männer. Strebsam und tüchtig. Und erst…seine goldenen Finger. Nicht nur bei den Maschinen, das musste sie zugeben. Und, bums, war sie schwanger. Heiner war begeistert. Eine Familie gründen. Eine Seemannsfamilie mit lauter blonden, kräftigen Seemännern. Leider bekamen sie nur eine einzige kleine Seefrau. Ein zierliches, dunkles Mädchen, wasserscheu wie die Mutter. Ein Töchterchen, das sich vor Wellen fürchtete, kaltes Wasser verabscheute und prompt seekrank wurde, wenn sie ins Spülbecken guckte, in dem das Abwaschwasser kreiselnd im Ausguss verschwand.
Nach Heiners Pensionierung verließen sie die hübsche Hausmeisterwohnung in Kappeln und zogen hinter der Lindaunis-Brücke in das kleine abgewrackte Fischerhaus, das er trotz Gretas Widerstand gekauft hatte.
»Total idyllisch«, sagte Heiner. »Wir müssen nicht mehr verreisen. Wir leben doch hier wie im Paradies.»
Dabei hatte er ihr eine Flugreise versprochen. In die USA, wohin ihre Tochter schließlich geflohen war, als sie das penetrante Gehämmer des Vaters, das ewige Gejammer der Mutter nicht mehr ertragen konnte. Den kleinen Enkelsohn hatten sie noch nicht gesehen. Den amerikanischen Schwiegersohn auch nicht.
»Ihr könnt doch kommen«, hatte die Tochter am Telefon gesagt. «Ihr habt doch jetzt Zeit. «
Hatten sie nicht. Hatte Heiner nicht. Er hatte sich ein altes Schiff gekauft. Eine Westerly. Absolut seefest, auch bei schwerer See, hatte er stolz gesagt. Sein alter Traum vom Segeln, nun würde er wahr werden. Auf schäumenden Wogen über die Ostsee zu jagen, nach Dänemark, nach Schweden, bis nach Finnland und weiter in die baltischen Länder. Auch Greta würde das Leben auf dem Wasser genießen, sagte er. Seekrankheit, pah, nur eine Frage der Gewöhnung. Seit zwei Jahren baute Heiner nun schon an dem Boot. Er bohrte, schraubte, strich, begleitet von dem ohrenbetäubenden Gedudel seiner Shanty-Chöre.
»Essen fertig?«
Heiner geht an den Kühlschrank und holt eine Flasche Klaren heraus.
»Schon vor dem Essen?«, protestiert Greta.
Heiner gießt sich reichlich ein.“ Zur Feier der Tages. Ansegeln. Raus nach Maasholm, ein kurzer Schlag auf die Ostsee.«
»Was, bei dem Wind? Und kalt ist es auch.«
»Papperlapapp! Schlechtes Wetter gibt’s nicht. Nur ungeeignete Kleidung.«
Er steht abrupt auf, wischt t sich die Hände an der Latzhose ab.
»In einer Stunde!Kombüse aufklaren und vergiss den Rum nicht. Eckeneckepen braucht seinen Schluck.«
»Aye, aye, Sir«, stößt Greta zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und lässt Spülwasser einlaufen.
Sie tuckern die Schlei hinunter, am Tonnenstrich entlang Richtung Schleimünde. Heiner jagt Greta auf dem schwankenden Schiff nach vorne. Mit klammen Händen hält sie sich an der Reling fest. Unter seinen gebrüllten Kommandos zieht sie die Fock hoch.
»Wie blöd bist du eigentlich? Ziehen, nur ziehen. So, jetzt belegen! «
Er setzt vom Cockpit aus das Roll-Groß und lässt die Westerly vom günstigem Südwest in Richtung Ostsee treiben. Backbord liegt die Lotseninsel mit der Giftbude.
Heiner manövriert das Boot durch die schmale Ausfahrt. Sie kommen ins freie Wasser. Es ist saukalt, trotz der milchigen Aprilsonne. Zusammengekauert sitzt Greta im Cockpit und starrt auf die höher werdenden Wellen. Sie schluckt krampfhaft, kämpft gegen das Würgen in ihrer Kehle.
»Halt mal die Pinne, ist ganz einfach.« Schon hat er ihr das Holz in die Hand gedrückt. »Das Schiebeluk am Niedergang ist lose. Ich hole den Schraubenzieher.«
Heiner verschwindet nach unten, ehe Greta überhaupt den Mund aufmachen kann.
»Höhe halten, Kurs halten, Maul halten! « Sein Lieblingsspruch.
Sie schaut angestrengt nach vorn.
Schon steht er geduckt unter dem Großsegel, das linke Bein auf der Sitzbank, das rechte Knie auf dem Laufdeck, zwei Schrauben zwischen den Zähnen. Mit der rechten Hand dreht er eine dritte Schraube in die Scharniere der Laufschiene.»
»Pass auf den Baum auf. Keine Patenthalse heute«, er lacht.
Was hat er gesagt? Auf einmal ist Greta hellwach. Pass auf den Baum auf. Ja, wenn das Segel auf die andere Seite schlägt, wird der Baum ihn vom Boot fegen, das sieht auch sie. Der Wind ist nicht besonders stark, drei, vier Windstärken. Das Schiff tänzelt bei achterlichem Wind hin und her. Langsam, langsam dreht der Bug der Westerly nach Osten, nimmt Fahrt auf. Heiner ist vertieft in seine Schrauberei. Und dann schlägt das Großsegel um, ohne Vorwarnung. Der Baum erwischt Heiner frontal an Kopf und Schultern, schleudert ihn über die Reling hinunter ins eisige Wasser. Wie lange kann ein Mensch in der kalten Ostsee überleben? Greta beobachtet, wie ihr Mann mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt, offensichtlich bewusstlos. Instinktiv greift sie nach dem Bootshaken, zögert, lässt die Hand sinken. Heiners Körper treibt am Bootsrumpf vorbei. Greta wartet eine Weile, lässt die Pinne los, geht nach unten, sucht ihr Handy. Das Schiff dreht sich auf den Wellen. Sie wählt den Notruf.
Ist es ihre Schuld, dass sie keinen Funkkontakt hat? Sie wird es noch einmal versuchen. Später.
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