Im Stau

»Deine Mutter hat sich wieder durchgesetzt. Wie jedes Jahr.« Theresa dreht sich um. Das Baby liegt im Maxi-Cosi und brabbelt vor sich hin. Der vierjährige Xaver ist über seinem Bilderbuch eingeschlafen. Es wird langsam dunkel.
Gunther zieht die Schultern hoch, blickt angespannt auf das Betonband der Autobahn vor ihm. Schweigt.
»Und jetzt fängt es auch noch an zu schneien«, sagt Theresa. »Das kann ja heiter werden. Aber Hauptsache, deine Mutter kriegt ihren Willen.«
»Versteh das doch bitte, Theresa. Mutter hat Heiligabend immer zu Hause gefeiert. Und jetzt, wo Vater tot ist, können wir doch nicht …«
»750 km über die Autobahn bei Schnee und Eis mit zwei kleinen Kindern, das können wir! Deine Mutter hat genug Zeit und Geld, um den Zug…«
»Theresa, wir haben das schon hundert Mal diskutiert. Mutter ist nicht bereit …«
»Nicht bereit? Gunther, werd endlich erwachsen. Eigene Familie – eigener Baum!  Unsere Wohnung ist wahrhaft groß genug.«
»Für das Wetter kann Mutter doch auch nichts.«
„Unverantwortlich, was wir hier tun.«
Gunther schweigt. Er weiß, dass Theresa Recht hat. Aber wann hat sie nicht Recht? Der Schnee war erst für morgen angesagt.
Gunther umklammert das Lenkrad seines VW-Busses so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
Der Schnee ist dichter geworden, bleibt liegen. Schneeflocken kommen auf sie zu. Die Scheinwerfer bohren sich einen Weg durch den weißen Tunnel. Die Blechlawine vor ihnen schiebt sich weiter, nimmt die nächste Steigung. Nur nicht stehen bleiben! Langsam müsste doch mal ein Streuwagen zu sehen sein, auch wenn Heiligabend ist. Wo wollen die vielen Leute überhaupt noch hin? Auf einmal geht gar nichts mehr. Vollsperrung auf der Sauerlandlinie, sagt der WDR-Verkehrsfunk. Die Fahrer sollten Ruhe bewahren, Streuwagen seien unterwegs, die Mittelspur müsse freigehalten werden für Abschleppfahrzeuge und Krankenwagen.
»Ist ja nur gut, dass unser Bully Standheizung hat«, sagt Gunther.
»Ja, ja, du Berufsoptimist, für dich ist das Glas immer halbvoll«, sagt Teresa.
»Besser als halbleer«, sagt Gunther und legt seine Hand auf Theresas Oberschenkel. Sie zieht das Bein weg.
»Halbleer ist das Glas doch nur für deine liebe Schwägerin Anita. Der Weihnachtsabend mit ihrem Gejammer scheint uns zumindest erspart zu bleiben«, sagt Theresa. »Der Schnee hat also doch was Gutes!«,  sagt Gunther.
»Wie konnte dein Bruder nur solch eine Nervensäge … « Weiter kommt sie nicht. Ein Knöchel klopft energisch an die beschlagene Fensterscheibe. Theresa lässt das Fenster hinunter. Ein Kopf mit weiß verschneiter Pelzkappe bohrt sich ins Innere.
»Anita, wo kommst du denn her?«
»Wir fahren schon die ganze Zeit hinter euch her. Aber Gunther schaut wohl nie in den Rückspiegel. Tom hat ununterbrochen Lichthupe gemacht.«
»Ja, stimmt«, sagt Gunther.«Ich habe mich schon gewundert, welcher Idiot … Soll er doch überholen bei dem Schneetreiben, habe ich gedacht.«
»Nicht denken. Mal nach hinten schauen«, sagt Anita und schiebt ihren Kopf noch weiter in das Auto, ihre kalten Lippen berühren Theresa Wange. Ein Schwall Schnee treibt ins Führerhaus.
«Saukalt hier draußen.«
»Ihr habt in eurem Super-SUV doch sicher Heizung.« Theresas Stimme klingt schrill. Gunther wendet den Kopf, runzelt die Stirn.
»Ja, schon. Aber die BMWs heute sind auch nicht mehr das, was sie waren. Ich habe zu Tommi gesagt, Tommi, habe ich gesagt, das kann dauern. Komm wir gehen vor zu Theresa und Gunther. Da haben wir wenigstens Unterhaltung.«
»Was, alle in dem kleinen Bus? Das wird zu eng.« Theresa schreit fast.
»Wieso das denn?« Anitas linkes Augenlid zuckt, sie presst die Lippen zu einem Strich zusammen.
»Ist gut. Ihr wollt uns nicht.«
»Quatsch«, sagt Gunther. Natürlich wollen wir euch. Steigt ein!«
»Weichei«, zischt Theresa. Laut sagt sie: »Die Kinder sind gerade eingeschlafen.«
»Ja, und«, sagt Anita. »Wir wecken sie doch nicht. Wir reden ganz leise. Ich sage Tommi Bescheid, ich sage, Tommi, sage ich, rede leise, die Kinder schlafen.«
Ihr Kopf verschwindet, Theresa lässt die Scheibe hochfahren. Trommelt mit den Fäusten auf die Ablage.
Schweigend sitzt das Ehepaar im Wagen. Sie starren in das Schneetreiben.
»Was sollte ich denn machen?«, fragt Gunther.
»Weihnachten zu Hause bleiben«, sagt Theresa.
»Dafür ist es zu spät«, sagt Gunther.
»Eben!«, sagt Theresa.
Mit kreischendem Schwung wird die Schiebtür geöffnet. Der Bus wackelt, das Baby schreckt auf, fängt an zu jammern.
»Da haben wir`s«, sagt Theresa.
»Das macht nichts«, sagt Anita. »Kinder schlafen gleich wieder ein. Nicht wahr, Liebes!« Sie beugt sich vor und streichelt mit einem kalten Handrücken über die weichen Wangen des Kleinkindes. Nun brüllt es wie am Spieß.
»Meine Güte, ist die Kleine empfindlich. Ihr packt sie wohl in Watte.«
»Du musst es ja wissen«, sagt Theresa, steht auf, geht zwischen den Vordersitzen durch, nimmt das Baby aus dem Maxi-Cosi, setzt es sich auf den Schoß, hebt ihren Pullover hoch und schiebt den BH hinunter. »Feli hat sich erschreckt.«
»Wieso das? Die Kinder heutzutage. Viel zu verzärtelt. Wir damals …«
»Nun lass mal, Anita«, lässt sich endlich Tom vernehmen. Er steht hinter Anita an der offenen Tür und stampft mit den Füßen, um den Schnee von seinen Lederschuhen zu entfernen. »Es tut uns leid, dass das Baby wach geworden ist. Wir gehen gleich wieder. Wir wollten euch nur guten Abend sagen.«
«Das habt ihr ja nun«, sagt Gunther.
»Hallo, Onkel Tommi«, sagt Xaver plötzlich und richtet sich in seinem Sitz auf.
«Hast du mir was mitgebracht?«
»Betteln tut man nicht, dann bringt das Christkind keine Geschenke«, sagt Anita.
»Wann kommt das Christkind denn endlich. Es ist doch schon ganz dunkel.«
»Es kommt nur, wenn du brav bist und schläfst«, sagt Anita.
»Aber ihr redet laut. Ich kann nicht schlafen.« Xaver verzieht das Gesicht zum Weinen.
»Pssst«, sagt Anita und legt den Finger auf seinen Mund. »Schön leise sein.«
»Nein«, schreit Xaver. »Ich will Geschenke. Sofort. Das Christkind soll kommen.«
»Xaverle«, sagt Theresa. »Bald sind wir bei Oma, du weißt, dort hat das Christkind die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt. Und schau mal, die Bäume haben weiße Mützen. Wir müssen nur noch auf den Schneepflug warten,«
»Au ja, Schneepflug«, brüllt Xaver, klettert zu seinem Vater nach vorn und dreht begeistert am Steuerrad.
»Was den Kindern heutzutage alles erlaubt wird …«
»Anita, bitte!«, sagt Tom.
»Anita, bitte, Anita, bitte! Alles dreht sich um die Kinder, niemand fragt, wie es mir geht.«
Theresa boxt Gunther in die Seite und flötet: »Du Arme. Das hab ich ganz vergessen. Wie geht es dir?«
»Schlecht! Schlecht wie immer. Glaubt mir ja keiner. Ich kann meine Arme kaum bewegen, die Schultern …«
»Aber Anita, der Arzt hat doch gesagt …«, sagt Tom.
»Typisch Tommi, der glaubt an Ärzte. Ich kenne doch wohl meinen Köper besser als diese Pfuscher, und wenn ich sage …«
Ihre Stimme ist schrill geworden. Tom versucht, einen Arm um sie zu legen. Macht einen Kussmund.
»Es ist Weihnachten, Liebes.«
»Genau«, sagt Theresa. »Und deswegen möchte ich Ruhe und Frieden.«
»Man darf doch wohl mal …«, sagt Anita.
»Nein, darf man nicht. Bitte, geht zurück zu eurem Wagen. Ich will, dass die Kinder wieder einschlafen.«
»Kinder, Kinder«, sagt Anita. »Gibt es für euch auch ein anderes Thema als Kinder?«
»Nein!«, sagt Theresa. »Bitte, schieb die Tür zu. Die Kinder erkälten sich.«
»Die Schlange vor uns bewegt sich«, sagt Gunther. »Es scheint weiterzugehen.«
»Jetzt habe ich Halsschmerzen«, sagt Anita. »Eure Schuld. Immer muss ich an Weihnachten zu eurer Mutter.«
»Wo sie Recht hat, hat sie Recht«, sagt Theresa, als die Tür zurauscht. Sie trägt die Kinder zurück in ihre Sitze, schnallt sie an, gibt dem Baby einen Schnuller, dem Kleinen seine Saftflasche.
»Soll Mama Schneeflöckchen, Weißröckchen singen?«
«Au ja«, sagt Xaver.
Langsam setzt sich der Bus in Bewegung.
»Ich verspreche dir, nächstes Jahr …«, sagt Gunther.
Theresa winkt ab. »Das glaube ich erst, wenn es so weit ist.« Sie fängt an zu singen.


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