Ich bin Künstler

Claude geht zum Küchenschrank, nimmt eine halbvolle Flasche Chivas Regal heraus. Er schüttet die gelbbraune Flüssigkeit in ein Glas, randvoll, zündet sich eine Zigarette an, inhaliert. Vor ihm auf dem Küchentisch liegt der Brief mit dem Absender der JVA. Der junge Mann lässt sich auf den Küchenstuhl fallen, reißt den Umschlag auf.

Mein lieber Sohn,
ich danke dir für Deinen Brief, auch wenn er voller Vorwürfe und Anschuldigungen steckt. Ein bisschen verstehe ich dich ja. Aber übertreibst du nicht maßlos, wenn du schreibst, du könntest dich nicht mehr auf die Straße trauen aus Scham, einen solchen Vater zu haben? Du würdest auch nicht mehr in die Kunstakademie gehen. Wolltest dich nicht den feindlichen Blicken der Professoren aussetzen, dich nicht von deinen Kommilitonen hänseln lassen. Und das alles wegen mir. Dein Vater – ein Betrüger.
Aber schaust du wirklich gut hin? Verachten dich deine Kommilitonen wirklich? Oder bewundern sie dich? Über Nacht bist auch du berühmt geworden. Du studierst Kunst wie ich damals. Und ehe du überhaupt ein Bild verkauft hast, ist dein Name schon in aller Munde. Du musst nicht wie ich in meinen Anfangsjahren bei Kunsthändlern und Galeristen Klinken putzen und dich demütigen lassen. Unser Name öffnet dir die Türen der Kunstwelt. Du musst nur eintreten. Natürlich, noch ist es mein Name. Ob es deiner wird, hängt von dir ab, von deiner Begabung, von deinem Einsatz und Fleiß.
Klar, ich verstehe, dass du noch immer unter Schock stehst. Dass man mir eines Tages auf die Schliche kommen würde, war vorauszusehen. Aber die Festnahme neulich, die war krimireif. Was haben die sich eigentlich gedacht, wen sie vor sich haben? Schwerkriminelle? Eine Vorladung hätte es doch auch getan. Wollten die einen »Tatort« nachstellen? Entsicherte Schusswaffen, Hände-hoch-Schreie. Natürlich hast du mir Leid getan, wie sie auch dich aus dem Auto gezerrt, an die Wand gedrängt haben. Sogar zwischen die Beine haben sie dir gegriffen, diese Schweine. Was haben die sich eigentlich gedacht, was du dort versteckt hast? Einen Picasso? Einen Monet oder was?
Verdammt, ich bin Künstler, kein Terrorist. Ich habe keine Bank ausgeraubt. Sie hätten in mein Atelier kommen können. Aber nein, es musste eine spektakuläre Festnahme sein. Mich hat gewundert, dass sie nicht den Pressegeiern vorher Bescheid gesagt haben.
Natürlich hätte ich es wissen müssen. Ich habe mir mächtige Feinde gemacht. Die Kunstszene aufgemischt. Diese Heuchler und Ignoranten, die weder den Wert eines Kunstwerks einschätzen noch eine Fälschung vom Original unterscheiden können. Wichtigtuerische Professoren, hoch bezahlte Kunstexperten, zu arrogant, um naturwissenschaftliche Untersuchungen zu berücksichtigen.
Ich bin gut, das weißt du. Du kennst meine Bilder. Ich bin mindestens so gut wie Picasso. Von Dalí ganz zu schweigen. Ich male besser als Max Ernst, das hat sogar seine Witwe zugegeben.
Überleg mal, mein Sohn, wem habe ich denn überhaupt geschadet? Auf jeden Fall keinem Privatsammler. Warum ist der sogenannte Betrug denn keinem aufgefallen? Weil niemand ein Interesse daran hatte. Alle, auch die Kunstexperten, die die Gutachten gemacht haben, haben mitverdient. Acht Prozent vom Erlös habe ich für diese habgierigen Gauner herausgerückt. Hinzu kam, dass kein Museumsdirektor sich blamieren wollte. Kunsthändler und Galeristen haben sich an meinen Bildern goldene Nasen verdient. Kunstwert ist Geldwert. Je höher die Preise, desto größer die Kunst. Und dann verschwinden die Bilder in Tresoren. Russische Oligarchen, chinesische Neureiche, die eitlen Hedge-Fonds-Jungs, alle wollen sie eine sichere Geldanlage und soziales Prestige. Kriminelle allesamt, die sich in Wirklichkeit gar nicht für Kunst interessieren, null Kunstverstand haben.
Du kannst mir nichts vorwerfen. Ich hab`s ja mit eigenen Bildern auf dem Kunstmarkt versucht. Aber solange du keinen Namen hast, nicht über Kontakte verfügst, bist du ein Niemand. Ich bin sicher, diese Erfahrung wird dir erspart bleiben. Nimm meine Festnahme als Chance, lieber Junge. Unser Name ist berühmt, die Filmrechte sind vergeben.
Übrigens, auch du hast von unserem Wohlstand profitiert. Wer von deinen Kumpels fährt mit zwanzig schon einen eigenen Porsche? Du bist jung, du wirst mit der Situation fertigwerden. Lange können sie mich nicht einsperren. Ich habe einige Fälschungen gestanden, zeige mich reuig. Der Deal mit der Staatsanwaltschaft steht. Halte den Kopf hoch. Deine Zukunft ist gesichert. Die Welt steht dir offen. Auch du bist begabt. Spiel nicht den übersensiblen Künstler. Sei ein Mann und reiß dich zusammen. Wehleidigkeit nützt dir nichts.
Ich habe gehört, du hast noch keinen Antrag auf Besuchszeit gestellt. Hole das bitte nach. Ich warte auf dich.
Dein Vater

Claude steht langsam auf, nimmt die Autoschlüssel vom Haken. Den schwarzen Porsche findet die Polizei am nächsten Morgen im Graben, 50 km entfernt von der Villa. Er war frontal gegen einen Baum geprallt.


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