Heimkehrer

radio vintageGroß war das Radio. Und schwer. Und nagelneu.
Der eckige Kasten stand im Wohnzimmer. Auf dem nierenförmigen Beistelltisch, dessen Resopalplatte er verkratzte, weil mein Vater ihn so häufig hin- und herrückte, um einen besseren Empfang zu bekommen, wie er behauptete, wenn er abends den Nachrichten lauschte.
Der Lautsprecher war verborgen hinter einem beigefarbenen Stoffgitter. Der braune Kirschholzrahmen wurde regelmäßig jeden Morgen von meiner Mutter abgestaubt. Und dann erst suchte sie den Musiksender. Sie liebte die deutschen Schlager. Und sang mit von Liebe und Sonne und vom hiiimmelblauen Meer. Ich durfte das Radio nicht anfassen.
Drei Knöpfe gab es, an denen mein Vater, wenn er von der Arbeit kam, ungeduldig herumfummelte: einen für die Lautstärke, einen für die Auswahl der Sender, einen dritten, um das Rauschen und Krächzen lauter oder leiser zu machen. Ganz verschwinden tat es nie.
Und dann gab es die Tante, die auf einmal jeden Abend kurz vor sieben bei uns klingelte. Sie kam herein, setzte sich in die Sofaecke , den Kopf ganz nahe am Radio, das linke Ohr gegen die Lautsprecheröffnung gepresst – was meine Oma stirnrunzelnd akzeptierte – und stopfte den Finger der rechten Hand in das freie Ohr. Mit ernstem Gesicht und gerunzelter Stirn lauschte sie Abend für Abend einem Radiosprecher, der mit monotoner Stimme eine mir endlos erscheinende Liste von Namen herunterleierte. Nach einer Stunde stand sie auf, seufzte schwer und ging langsam zur Tür. Meine Oma und meine Mutter erhoben sich dann ebenfalls. Meine Mutter legte tröstend den Arm auf ihre Schulter. Meine Oma sagte was von »Vielleicht morgen«, und wenn die Haustür ins Schloss fiel, kam mein Vater wieder aus dem Schlafzimmer, wohin er sich mit seiner Zeitung verzogen hatte.
»Sie könnte sich selbst ein Radio kaufen«, hatte er einmal zu murmeln gewagt. Aber meine Mutter hatte ihn streng angesehen und meine Oma hatte was von »unserer Christenpflicht« gesagt. Und dann hatte mein Vater geschwiegen. Nach drei Monaten kam sie nicht mehr.
Ihr Mann komme nicht zurück aus Sibirien, sagte mein Vater, den ich fragte, wo die Tante bleibe. Er sei gefallen. Und dann presste er die Lippen aufeinander und versenkte sich wieder in seine Zeitung. Und ich verstand nicht, warum der Mann nicht einfach wieder aufgestanden war.


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