Doppelleben
So sieht kein Monster aus, dachte der junge Richter, als ihm Richard Feddersen vorgeführt wurde. So unscheinbar und grau und blass. Unstete Augen hinter dicken Brillengläsern, fahrige Handbewegungen, eine leise, leicht lispelnde Sprache. Eher ein Opfer als ein Täter. Eine Figur wie aus Kafkas Romanen.
Reinhold Börnson sollte zum ersten Mal in einem Strafprozess den Vorsitz führen. Nicht dass er sich schlecht vorbereitet fühlte, aber vielleicht hätte doch ein älterer, erfahrener Richter mit dem Vorsitz betraut werden sollen, denn bei der Scheußlichkeit der Tat würde der Prozess ein enormes Medieninteresse auf sich ziehen. Wie Haie warteten die Anwälte auf formal-juristische Fehler, um in Revision zu gehen. So hatte Börnson sich den Start seiner richterlichen Laufbahn nicht vorgestellt. Aber vielleicht könnte genau dieser Prozess auch die erste Stufe zu seiner Karriere sein.
Das Verblüffende war, dass Richard Feddersen von Anfang an geständig war und auf die Frage hin, welchen Anwalt er wolle, desinteressiert die Schultern gezuckt hatte. Der vom Gericht zugeteilte Pflichtverteidiger hatte Feddersen gedrängt, das Geständnis zu widerrufen, denn er war sich des Medienrummels bewusst und sah die Chance für große Auftritte. Er hatte jede Menge Zeugen vorgeladen, die dem Angeklagten einen tadellosen Lebenswandel bescheinigen sollten.
Die Arbeitskollegen im Finanzamt betonten einstimmig, dass Feddersen ein zuverlässiger, freundlicher Kollege gewesen sei, der allerdings mit niemandem engeren Kontakt gepflegt habe.
Feddersens Vorgesetzter lobte dessen Pünktlichkeit und Arbeitseifer. Feddersen habe sich in all den Jahren nicht einmal krank gemeldet. Persönlich wisse er nichts über ihn, da der Mann sehr zurückhaltend sei. Aber es habe in den zwanzig Jahren mit diesem Mitarbeiter nie Probleme gegeben. Er hätte sich manchmal mehr Eigeninitiative gewünscht, wäre aber froh, wenn alle Angestellten in der Firma so ordentlich und zuverlässig arbeiten würden wie Feddersen. So sei Feddersen auch von der Rationalisierungswelle im letzten Jahr nicht betroffen gewesen, obwohl ihm nahe gelegt worden sei, ein Gesuch auf vorzeitige Pensionierung einzureichen. Bei entsprechender Abfindung, selbstverständlich.
Auch der Pförtner, der den Eingangsbereich kontrollierte, bescheinigte Feddersen absolute Pünktlichkeit, allerdings nicht nur morgens bei Arbeitsbeginn. Das Gericht war schon erstaunt zu hören, dass Feddersen das Gebäude auch nachmittags pünktlich auf die Minute verließ.
Die Nachbarn wussten wenig über ihn. Sie sahen ihn immer um die gleiche Zeit nach Hause kommen, immer freundlich grüßend. Es gab kaum eine Frau im Haus, der Feddersen nicht schon einmal kavaliersmäßig die Tür aufgehalten hatte. Besuch habe er in den letzten Jahren keinen bekommen, habe auch abends das Haus kaum verlassen, wusste die ältliche Dame in der Parterrewohnung zu berichten, um sofort hinzuzufügen: „Nicht, dass mich das interessiert. Ich sitze ja nicht die ganze Zeit am Fenster.“
Der Verteidiger hatte sich auch nicht gescheut, Feddersens Mutter im Altersheim aufzusuchen. Die alte Dame war noch recht klar im Kopf, war allerdings nach einem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt.
„Er ist so ein guter Bub“, sagte sie. „Er besucht mich einmal in der Woche und bringt mir immer rosa Nelken mit.“ Auf die Frage, ob ihr 55jähriger Sohn verheiratet sei oder eine Freundin habe, sagte sie mit großer Bestimmtheit: „Nein, mein Richard doch nicht.“ Er habe sich Gott sei dank nie für Mädchen interessiert.
Diese Antwort kam schließlich auch dem Verteidiger so ungewöhnlich vor, dass er zu fragen wagte:“ Und das hat Sie nicht gewundert?“
„Nein, wieso?“ entgegnete die alte Dame freundlich lächelnd. „Nicht alle Menschen wollen das Schmutzige.“ Sie habe ihren Richard streng erzogen. Er habe von früh auf allen Schmutz gehasst. Schon mit einem Jahr sei er „sauber“ gewesen. Ohne Rückfälle. Nur böse Menschen könnten schlimme Dinge über ihren Richard sagen. Sie kenne ihn besser, sie sei schließlich seine Mutter.
Der Verteidiger verzichtete daraufhin, Frau Feddersen als Entlastungszeugin vorzuladen. Nicht dass er befürchtete, sie würde die Aussage verweigern. Ganz im Gegenteil, er hatte Bedenken, wie ihre Worte auf das Gericht wirken würden, und sah schon die Schlagzeilen in der Boulevardpresse: „Verklemmte Mutter trieb Sohn zum Sexualmord.“
Den entscheidenden Hinweis hatte schließlich der Straßenbahnfahrer Willy Otremba gegeben. Als Feddersen vor einer Woche freundlich grüßend die Bahn um 17.30 Uhr bestiegen habe, sei sein Platz besetzt gewesen. Auf dem Sitz saß ein etwa achtjähriger Junge mit Kopfhörern, der sich rhythmisch zur Musik bewegte. Der Straßenbahnfahrer schaute neugierig in den Rückspiegel, um zu sehen, was passieren würde, wenn Feddersen feststellte, dass sein Sitz nicht frei war. Der habe sich aber völlig unaggressive neben den Jungen gesetzt und mit ihm gesprochen. DerJunge habe sogar seine Kopfhörer aus den Ohren genommen und sich Feddersen zugewendet. An der Haltestelle, an der Feddersen immer die Bahn verließ, sei der Junge auch ausgestiegen.. Dem Fahrer war das etwas merkwürdig vorgekommen und er hatte den beiden nachgeschaut, wie sie auf dem Bürgersteig in Richtung der Hochhäuser gingen, in denen Feddersen wohnte.
Kennt Feddersen den Jungen, hatte er sich noch gefragt, und dann die Sache vergessen. Erst zwei Tage später, als das Foto des vermissten Jungen in den Nachrichten gezeigt wurde, ging Otremba zur Polizei.
Dass man die Leiche des Jungen zerstückelt in der Gefriertruhe im Kellerverschlag finden würde, damit hatte keiner gerechnet. Feddersen gab beim ersten Verhör zu, den Jungen getötet zu haben, da dieser „verdorben“ gewesen sei und ihn „provoziert“ habe .Er habe nicht gewusst, wohin mit Leiche und habe sie erst einmal in die Gefriertruhe gelegt. Dazu habe er sie mit der Säge zerkleinern müssen. Woher die anderen Leichenteile stammten, wisse er nicht, brachte er ohne große Gemütsbewegung vor. Die junge Polizeianwärterin, die die Truhe geöffnet hatte, erbrach sich noch vor Ort und überlegte ernsthaft, ihre Ausbildung abzubrechen.
Ob ein Sexualverbrechen oder Kannibalismus vorlag, konnte nie wirklich geklärt werden. Der Gerichtspsychiater bescheinigte Feddersen in seinem Gutachten eine schwere Persönlichkeitsstörung. Das Gericht hielt den Angeklagten jedoch für schuldfähig und verurteilte Feddersen wegen heimtückischen Mordes zu lebenslänglicher Haft und anschließender Sicherheitsverwahrung.
Der Verteidiger legte keine Revision ein.
Tags:
28. August 2010 at 18:43
Autorin hat psychologisches Gespür.
24. Oktober 2010 at 16:34
Entschuldige aber sowas liest man immer wieder mal in der Zeitung und hat Stevenson (scheibt der sich so?)in Dr. Jerkill und Mr. Hyde ausführlicher thematisiet.