Die Klingel

image004»Mama«, sagt Max-Emanuel und knabbert an seinen Nägeln.
»Nimm die Finger aus dem Mund«, sagt seine Mutter und schlüpft in den roten Mantel.
»Mama«, versuchte es Max-Emanuel noch einmal.
»Also, los. So wie du guckst – was hast du verbrochen?«
»Tja, ich weiß nicht so genau. Ich kann mein Mountainbike einfach nicht finden.«
»Wie, nicht finden?«
»Ich weiß genau. Ich habe es vor dem Haus abgestellt.«
»Am Ständer angeschlossen?«
»Ja, äh, ich glaub schon!«
»Weißt du oder glaubst du?«
»Eh, ich glaube, weiß…«
»Max-Emanuel, das Rad hat dir Oma letzte Woche zum Geburtstag geschenkt.«
»Eh, ha, ich dachte ja nur…«
»Was dachtest du?«
»Vielleicht hast du es ja …«
»Was? Weggestellt? Habe ich nicht!«
»Oder Marie-Luise?«
»Mach dich nicht lächerlich. Was soll Marie-Luise mit deinem Mountainbike? Die kommt doch noch gar nicht über die Stange.«
»Aber vielleicht wollte sie…«
»Red keinen Quatsch. Du hast das Rad unabgeschlossen vor die Haustür geknallt, und nun ist es weg.«
Max-Emanuel fängt an zu weinen. »Mama, ich …«
»Also, langsam reicht es mir. Das wievielte Rad ist das nun? Die Versicherung wird uns rausschmeißen.            «
»Kann man nicht bei der Polizei?«
»Ja klar, da haben es die Diebe abgegeben. Du mit deinen acht Jahren, du müsstest doch auf dein Rad aufpassen können.«
»Mama, ich …«
»Ach, sei ruhig. Du und deine Schlamperei. Warum nimmst du dir nicht ein Beispiel an deiner kleinen Schwester. Marie-Luise hält ihre Sachen immer zusammen.«
»Mama, was soll ich nun Oma sagen, wenn sie morgen kommt?«
»Na, da kannst du dir was Schönes ausdenken. Ich nehm dich nicht in Schutz.«
»Soll ich zur Polizei…«
»Mach, was du willst. Ich fahre jetzt mit Marie-Luise in die Stadt zum Einkaufen.«
Sie überlegt kurz. »Ok., und wenn wir noch Zeit haben, gehen wir auf dem Fundamt vorbei. Es geschehen ja manchmal noch Wunder.«
»Danke, Mama!«
Die Mutter rollt mit den Augen, ruft ihre Tochter, die dem großen Bruder noch schnell die Zunge herausstreckt und dann ins Auto hüpft.Der Bruder reckt den Stinkefinger, heimlich.
Vor dem Fundamt sind Parkplätze frei.
»Hat Max-Emanuel wieder sein Fahrrad verloren?«, zwitschert Marie-Luise und ergreift Mutters Hand. »Da wird Oma aber traurig sein.«
»Du hältst jetzt den Mund«, sagt die Mutter. »Vielleicht haben wir ja Glück.«
»Ich habe mein Rad noch nie verloren«, Marie-Luise lässt nicht locker. »Ich schließe es immer ab.«
»Das weiß ich, Schatz! Nun komm, vielleicht finden wir Max-Emanuels Rad. Wir müssen die Räder genau angucken.«
»Ich weiß genau, wie es ausschaut. Gelb«, sagt Marie-Luise.
Ein Angestellter geht mit ihnen in den großen Keller, in dem Hunderte von Rädern nebeneinander aufgebockt stehen.Schweigend gehen sie durch die Reihen. Kein gelbes Mountainbike.
Auf einmal bleibt Marie-Luise stehen. Völlig hingerissen.
»Schau mal, Mama«, sagt sie. »Da ist mein Rad.«
»Was?«, fragt die Mutter. »Dein Rad? Ist dein Rad denn auch weg?«
»Nö,«, sagt Marie-Luise. »Gar nicht. Aber das ist mein Rad. Komisch!«
Sie stehen vor einem roten Kinderrad.
»Hör mal Kleine«, sagt der Angestellte »Wieso weißt du, dass das dein Rad ist.«
»Ist doch klar«, sagt Luise, ohne zu zögern. »Die Klingel!«
»Welche Klingel?«
»Na, die Radklingel.»
»Wie sieht denn deine Klingel aus?«
»Ist ne Prinzessin drauf. Prinzessin Lilofee, du Dummi!«
»He, he, Marie-Luise«, sagt die Mutter..
»Ist doch wahr«, sagt Marie-Luise. »Und die Prinzessin Lilofee hat ein goldenes Kleid an, nicht so ein blödes rosanes. Und da ist ein Kratzer drauf. Hat der blöde Finn Linus gemacht.«
Tatsächlich, auf dem goldenen Kleid von Prinzessin Lilofee ist ein Kratzer, der quer über die Klingel geht.
»Aber ich habe Finn Linus gebissen«, sagt Marie-Luise stolz. »Da hat er geweint.«
»Sie hat einen großen Bruder«, sagte die Mutter entschuldigend zu dem Angestellten.
»Sie muss sich wehren.«
»Das werden wir gleich haben«, sagt der Mann. »Wir müssen herausfinden, wo das Rad gefunden wurde.«
Zusammen gehen sie ins Büro in die erste Etage. Die nette junge Frau wirft einen Blick in die Unterlagen.
»Tatsächlich«, sagt sie. “ Ihre Tochter scheint Recht zu haben. Das Kinderrad stand vor dem kleinen Kiosk am Ende der Straße, in der Sie wohnen.«
»Ich habe da Lollis gekauft«, sagt Marie-Luise fröhlich. „Ich glaube, ich habe das Rad vergessen.« Sie schaut die Angestellte an. »Ist gar nicht weit bis nachhause. Kann man auch zu Fuß gehen.«
»Na, da hast du aber Glück gehabt, Kleine«, sagt die Frau und lacht. „Da hat jemand aus der Straße das Rad bei uns abgegeben.«
»Ich hab eben einfach Glück«, Marie-Luise schüttelt ihre hellen Locken. »Und was ist nun mit dem Rad von Max-Emanuel? Ich wette, es ist weg.«


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