Der Strand von Trafalgar
Prohibido El Consumo De Drogas
Sarah treibt auf dem silbernen Strahl bäuchlings Richtung Strand, bleibt im Flachen liegen, den Kopf leicht angehoben, das Kinn auf die Fäuste gestützt. Wellen rollen über sie hinweg, Wasser wie kühle Seide, die Formulierung gefällt ihr. Wo hat sie diese Worte gelesen?
Der Silberstreif der Sonne läuft direkt auf den Leuchtturm zu, wiegt sich auf der grün-blau changierenden Oberfläche, überschlägt sich mit den munter rippelnden Wellen, kriecht als helles Band über dem Sand hoch hinauf auf die Düne und lässt den weißen Turm mit dem gläsernen Lampenhaus im Licht des späten Nachmittags aufglühen.
Sarah dreht sich auf den Rücken, atmet in tiefen Zügen die salzige Luft ein, hält ihr Gesicht in die sanft wärmende Sonne, schließt die Augen.
Endlich, endlich die langersehnten freien Tage. Die Anspannung der letzten Wochen liegt hinter ihr. Sie arbeitet in der IT-Branche. Für eine große Bank musste ein neues System implementiert werden, die Vorbereitungen dauerten über ein Jahr und waren stressig. Es gab immer wieder Verzögerungen und Sarah – als Teamleiterin einer Gruppe von 10 Spezialisten – wurde von höherer Stelle natürlich die Verantwortung für jedes auftretende Problem zugeschoben. Streit und Missgunst auch im Team. Eine karrieregeile Kollegin fühlte sich von Anfang an übergangen. Sie war überzeugt, ihr stünde die Projektleitung zu. Es wurden Intrigen gesponnen, manchmal hatte Sarah das Gefühl, die auftretenden Schwierigkeiten würden absichtlich von neidischen Mitarbeitern initiiert. Das Go Live Wochenende rückte heran, Änderungen mussten auf den letzten Drücker eingebaut werden und Sarah war am Ende ihrer Kraft und Nerven. Das System funktionierte, ging in der Nacht vom Samstag auf Sonntag live, doch Sarah war so erschöpft, dass sie ernsthaft überlegte, ob sie diesen Stress, diesen Konkurrenzkampf auf Dauer durchhalten konnte oder ob sie sich lieber einen weniger anstrengenden Job suchen sollte. Zwei Wochen Strandurlaub waren genau das, was sie brauchte.
Der schlanke, blendend weiße Leuchtturm von Trafalgar erhebt sich auf einer ins Meer hinausragenden Düne, bewachsen von hellgrünem Strandgras, dunkelgrünem, nadeligem Kieferngestrüpp und fleischigen Sukkulenten, die seit Jahrhunderten verhindern, dass der Sand wegfliegt.
Die Schlacht von Trafalgar: Bilder tauchen auf. Zwei Reihen von parallel segelnden Kriegsschiffen, die sich gegenseitig unter Beschuss nehmen. Die Segel vom Wind gebläht treiben die Fregatten in Sichtweite des Landes nebeneinander her. Geschützdonner, hohe Schreie, das Geräusch splitternden Holzes.
»England expects everybody to do his duty«. Admiral Nelsons berühmter Satz, bisher nur eine Grammatikübung im Englischunterricht zur Demonstration einer eleganten sprachlichen Konstruktion, nimmt gruselige Gestalt an. Tausende von Toten, unter ihnen Nelson. Der französische Vize-Admiral Villeneuve wurde gefangen genommen, später hingerichtet. Sarah schließt die Augen: so viele Tote, so viel Blut, so viel Leid.
Die Ebbe zieht Sarah zurück ins Meer. Der Strand wird breiter, auf dem nassen, freigelegten Rand ist der Boden hart genug für die ersten Jogger. Muscheln, Algen, Steine und Reste angespülter Fischernetze markieren die Stelle, bis zu der das Wasser bei der letzten Flut gestiegen ist. Die junge Frau krault ein Stück hinaus, der Sonne entgegen, lässt sich von der Strömung mitziehen, treibt auf glitzernden Wasserstrahlen. Erst als sie den Grund unter den Füßen nicht mehr ertasten kann, ändert sie die Richtung, surft auf den Wellen zum sicheren Strand.
In der Bucht flattern grüne Fahnen, zwei junge Lifeguards hocken mit ihren Ferngläsern auf dem hölzernen Turm, Trillerpfeifen um den Hals, um leichtsinnige Touristen zurückzupfeifen, wenn die sich zu weit vom Ufer entfernen. Ein Schlauchboot mit großem Außenborder liegt im Sand, bereit zum Einsatz. Es gebe starke Strömungen in diesem Strandabschnitt, man dürfe nicht zu weit hinausschwimmen, hat der Wirt in der Strandkneipe gewarnt.
Hinter den niedrigen Dünen sieht die Ansammlung von kleinen Gebäuden aus wie ein afrikanisches Dorf. Man erzählt, die andalusischen Schäfer an der Küste hätten seit grauer Vorzeit in solchen Hütten gewohnt. Die kugeligen Gebäude sind nicht mit Stroh oder trockenem Gras gedeckt, sondern mit Schilf, auf dem eine Schicht Sand gestreut wurde. Wasserfeste gelbe Farbe hält die Konstruktionen zusammen. Ein Dorf für Schlümpfe wie früher im Kinderfernsehen.
Vom Meer kommend sieht man auf der rechten Seite der langgestreckten Bucht das mit dichten Schirm-Pinien bewachsene, hohe Sandsteinkliff der Caños de Meca, unten an der Küste die kleinen, mit weißer Kalkfarbe gestrichenen Häuser und Hotels. Kein Bau ist höher als die sich wiegenden Palmen, ein Höhenmaß, das der Architekt und Künstler César Manrique nicht nur für Lanzarote durchgesetzt hat. Oben auf den Klippen steht ein steinerner Rundturm, von dem aus die Strandbewohner damals die von See her anrückenden Angreifer rechtzeitig erspähen konnten. Heute ist er ein beliebter Aussichtspunkt für Touristen, die nach einer schweißtreibenden Wanderung durch das sandige Naturschutzgebiet angesichts des weißen Strandes und des blauen Wassers reflexartig ihre Smartphones zücken.
Der Strand scheint immer noch ein Geheimtipp zu sein. Sarah schaut auf die überschaubare Zahl der Sonnenanbeter im Sand. Familien mit kleinen Kindern lagern unter bunten Sonnenschirmen, Pärchen liegen auf den wild gemusterten Decken, die schwarze Strandhändler unermüdlich anbieten. Halbwüchsige Jungen in engen Neoprenanzügen versuchen, mit ihren Bodyboards die niedrigen Wellen zu reiten, geben bald frustriert auf.
Zwei Männer mit Labrador-Hündinnen werfen einen weichen Ball ins Wasser, um die Hunde zu bewegen, sich ins kalte Nass zu stürzen. Sie müssen immer wieder selbst die Bälle zurückholen, weil die Tiere vor dem weißen Schaum am Rand zurückschrecken oder spätestens dann in Panik geraten, wenn der Ball vom Wasser zu weit mitgezogen wird und sie keinen Sand mehr unter den Füßen spüren. Doch die Männer geben nicht auf. Immer wieder schwimmen sie selbst hinaus, während die Hunde aufgeregt kläffend auf den Ball warten und an ihren Herrchen hochspringen, sobald diese den Strand betreten mit dem Objekt der Begierde hoch über den Köpfen. Die Männer haben Geduld, die Hunde auch. Wer in diesem Spiel Sieger bleibt, wird Sarah an diesem Tag nicht mehr erleben.
Der Wind hat aufgefrischt, der erste Sonnenschirm reißt aus der Verankerung. Sarah zerrt Shorts und T-Shirt über den halbtrockenen Bikini, rollt das Strandtuch zusammen und stopft es in die Badetasche. Langsam stapft sie über die sanft ansteigenden Holzbohlen zurück zur Kneipe. Oben auf der schmalen Betonpiste zum Dorf haben junge Leute in bunten, wallenden Gewändern ihre Verkaufsstände aufgebaut: Halsketten aus Muscheln, rote, blaue, grüne Freundschaftsarmbänder, Badetücher, Shirts, allerlei Krimskrams zusammengeklaubt auf den Märkten der Umgebung. Junge Mädchen mit hüftlangen Haaren tragen ihre schlafenden Babys im Tuch vor dem Bauch, junge Männer mit Rastalocken und Jesuslatschen hocken daneben, ziehen an einer Zigarette. Sarah bläht die Nasenflügel, schnuppert den Haschgeruch, fühlt sich zurückversetzt in die Hippie-Szene der 70er Jahre, die sie eigentlich nur von den Fotos und Erzählungen ihrer Eltern kennt. Auch die Blumenkinder hier am Strand sehen gelassen und glücklich aus. Kein Stress, kein Zeitdruck, keine unerfüllbaren Aufgaben von außen aufgezwungen. Ein friedliches, fast paradiesisches Bild. Die Auszeit, die diese jungen Familien sich gönnen, ist wohl noch lange nicht zu Ende, zumindest sieht es so aus, als ob sich niemand Sorgen um die Zukunft macht. Bewundernswert?
Sarah betritt die kleine Strandkneipe, um geschützt vom Wind unter dem afrikanisch aussehenden Hüttendach ein Eis zu essen, einen café con leche zu trinken. Oder ist es schon Zeit für una copa de vino blanco? Wobei doch das gezackte, hoch aufragende Holzschild am Eingang warnt:
Prohibido El Consumo De Drogas
Das Konsumieren von Drogen ist verboten. Eine Karaffe mit kühlem Weißwein bringt der freundliche Wirt ohne Kommentar. Als Zugabe ein Schälchen mit grünen und schwarzen Oliven und ein wenig Schafskäse. Offensichtlich gilt Wein nicht als Droge, nicht hier am andalusischen Atlantikstrand. Sarah nippt zufrieden an ihrem Glas. Der hübsche Typ am Nebentisch lächelt sie an, streckt den Arm aus, hält ihr einen Joint hin.
»Take it! You need it«, sagt er auf Englisch. Sarah zögert. Sie hat seit dem Studium nicht mehr … Aber was soll`s? Ein Joint ist genau das, was sie jetzt braucht. Der Typ rutscht zu ihr auf die Bank.
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