Tina T.

Tina Turner, die Frau mit den wilden Haaren und der erotischen Stimme kommt nach Bremen. Ins Weserstadion.
»River deep, Mountain high«, singt sie und der Song treibt nicht nur meinem Mann einen Schauer über die Wirbelsäule und Tränen in die Augen.
Die Karten sind seit Wochen ausverkauft, die Preise auf dem Schwarzmarkt unerschwinglich.
Unser Sohn hat Karten besorgt. Wie er das geschafft hat, bleibt sein Geheimnis. Ein Geschenk für seinen Vater zum 60. Geburtstag. Netterweise ist er davon ausgegangen, dass – trotz Tina – sein Vater mich an seiner Seite haben will.
Tina geht auf die 70 zu, ihre Sex-Appeal sei nach wie vor ungebrochen, behauptet mein Mann. Der Sohn schmunzelt, ja, mag sein, für deine Generation, Papa. Du bist ja auch fast so alt wie sie. Mein Mann schweigt,  ist beleidigt. Er hat alle Platten von Tia Turner gesammelt, später die CDs.
Wagenkolonnen auf dem Weserdeich wie zu einem Werder-Spiel. Die Parkplätze proppenvoll. Hupen, schimpfen. Mein Mann drängt brutal in eine Lücke. Geschafft! Er hat die Karten in der Hand, wir zwängen uns in die Schlange zum Eingang. Vorne staut sich der Menschenstrom, von hinten wird nachgeschoben. Ich kralle mich an Rolfs Gürtel fest, bereue bereits, mitgekommen zu sein. Ich hasse Menschenaufläufe, bin ungern eingequetscht, bekomme schnell Platzangst. Mein Sohn hatte Unrecht, nicht nur »ältere Herrschaften«, wie er ein wenig von oben herab kommentierte, scheinen an Tinas Konzert interessiert zu sein. Zumindest ist auch das »Mittelalter« gut vertreten. Und der Typ, der mir von hinten sein Schale Pommes mit Ketchup in den Rücken drückt, ist sogar relativ jung. Am liebsten würde ich ihm eine runterhauen.
Endlich sind wir drin im Stadion. Vorne stehen die Menschen schon Bauch an Bauch. Da will ich nicht hin, ich weigere mich weiterzugehen. Hätten wir doch bloß Sitzplätze am Stadionrand.
»Kommt keine Stimmung rüber«, hatte Rolf behauptet. Wir bleiben erst mal im Mittelfeld stehen, aber der Strom der Menschen lässt nicht nach, wir werden nach vorne geschoben. Es wird immer enger. Ich versuche, einen Atemabstand zu meinen Vordermännern zu lassen, aber da schieben sich von hinten junge Kerle dazwischen, nehmen mir die Luft und die Sicht.  Rolf wird wütend.
»He, ihr da, wir sehen nichts mehr!«, schreit er die Jungs an. Die lachen und zucken mit den Schultern. Mein Mann ballt die Fäuste.
»Nein«, sage ich. »Nicht.« Ich ziehe ihn zurück. »Willst du dich mit dem Prollvolk schlagen?«
Er brummt. Guckt aggressiv, ballt die Fäuste. Auch das noch. Wäre ich bloß zu Hause geblieben. Alles wegen einer fremden Frau, die er anhimmelt. Na ja, die kann gut singen. Ich nicht. So sexy wie sie kann ich mein eher dünnes Haar auch nicht schütteln. Und ihr Hüftschwung ist unglaublich erotisch, dass muss ich zugeben. Trotzdem, viel Glück im Leben hat sie nicht gehabt. Ike Turner hat sie immer wieder geschlagen und gedemütigt.
Das Konzert beginnt. Riesige Scheinwerfer auf der Bühne. Tinas Auftritt, ganz in schwarzem Leder mit Glitzerpailletten, schwindelerregend hohe Absätze. Die Masse klatscht, pfeift, brüllt. Die ersten Gitarrenklänge zu »River deep, Mountain high«. Die Menschen rasten aus, trampeln, schreien, sind außer sich vor Begeisterung. Tina Turner hat eine tolle Stimme, das muss ich zugeben. Live ist sie noch beeindruckender als aus der Konserve.
Ein Laufsteg ist – von der Bühne ausgehend –  über die Köpfe der Menschen  ins Stadion hinein gebaut.
»What`s love got to do with it?« Erstaunt stelle ich fest, dass ich mitbrülle. »What`s love got to do with it? What`s love but a second hand emotion.«
Was singe ich da eigentlich? »It`s only physical«, röhrt Tina.
»It`s only physical«, kreischt die Menge, kreische ich.
Liebe – nur körperlich? Egal, die Musik reißt uns mit, die Göttin schwebt im flackernden Scheinwerferlicht über die in den Nacken gelegten Köpfe, geschmeidig wie ein schwarzer Panther. Die Musik überwältigt auch mich, schaltet rationale Gedanken aus. Ich bin nur noch Körper, bewege mich im Rhythmus des Beat.
So manipuliert man Menschenmassen, durchzuckt es mich. Hypnose. Man knipst seinen Verstand aus. »It`s only physical.«
Dann plötzlich ein Knall. Was war das? Eine Bombe? Ein Gewehrschuss? Oder nur ein Verstärker, der explodiert ist? Schlagartig steigt der Geräuschpegel. Brüllende Männerstimmen. Kreischende Frauen. Tina auf dem Steg singt unbeirrt weiter. Ist sie schwerhörig? Nach und nach lassen die Musiker ihre Instrumente sinken, spähen angestrengt in die Dunkelheit. Menschen schieben von hinten, drängen Richtung Ausgang. Hoffentlich machen die sofort alle Notausgänge auf, denke ich.
»Keine Panik«, eine blecherne Lautsprecherstimme. »Bleiben Sie ruhig. Es besteht keine Gefahr, wir haben alles unter Kontrolle.«
Das sagen sie immer, denke ich und fasse nach Rolfs Hand. Mit Ellbogeneinsatz kämpfen sich Menschen an uns vorbei: hirnlos brüllend wie eine in Panik geratene Büffelherde.
»Los«, sagt Rolf. »Nicht stehen bleiben.« Er packt mich an den Schultern und schiebt mich vorwärts. Hoffentlich fällt niemand hin. Die Meute wird über alles hinwegtrampeln, was sich ihr in den Weg stellt. Mitschwimmen im Strom, die einzige Chance. Auf der Bühne haben die Musiker unterdessen ihre Instrumente wieder hochgenommen.
Tina nimmt das Mikrofon: »No danger«, schreit sie. »Keep calm!« Dann auf Deutsch: »Keine Gefahr. Ruhig bleiben.«
Ruhig bleiben, papperlapapp. Nun zeigt es sich, dass es gut war, nicht so weit nach vorn zu rücken, in der Nähe des Ausgangs zu bleiben. Wir werden hinausgeschoben. Drinnen fängt die Musik wieder an zu spielen.
»You`re simply the best«, singt Tina. Wie passend, denke ich. Nur raus hier!
Und jetzt drehen die Leute wirklich durch, drehen um, wollen wieder hinein.
Mein Mann zögert, schaut zurück.
»Nein«, sage ich und stemme meine Beine in den Boden. »Nicht zurück. Nein. Ich hab genug. Ich setze mich ins Auto. Ich geh da nicht wieder rein.«
»Da war nichts. Blinder Alarm«, sagt er.
»Geh du zurück ins Stadion, deine Tina singt wieder«, sage ich. »Ich warte im Wagen. Du kannst weiter zuhören.«
»Das will ich auch«, sagt er. «Zuhören. Im Auto, zusammen mit dir.« Er streichelt meinen Arm.
Und das machen wir. Bei offenem Fenster genießen wir das Konzert. Bis zum Schlussakkord. Im Auto. Aneinandergekuschelt.
»Woman in a Man`s World«, singt Tina.
»Du hast ja Recht gehabt«, sagt mein Mann. »Wie immer!«
»Woman in a Man`s World«, sage ich. Er küsst mich.


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