Bird Watching
«Wann kommen sie endlich?», der kleine Junge zerrt an der Hand der Mutter. «Mir ist kalt.»
Die Mutter zieht dem Kind die Mütze tiefer in die Stirn, knöpft ihm den Mantel zu, wickelt den Wollschal fester um den Hals.
«Es dauert nicht mehr lange, bestimmt nicht. Guck mal, die Sonne ist gleich hinter den Bäumen verschwunden.»
«Warum kommen sie, wenn es dunkel wird? Dann sehen sie doch nichts mehr.»
«Nicht wenn es ganz dunkel ist», sagt die Mutter und kramt den Fotoapparat aus der Tasche. «Wenn es dämmrig wird. Sie brauchen einen Platz zum Übernachten.»
Mutter und Sohn suchen mit zusammengekniffenen Augen den Himmel ab. Er ist grau und leer bis zum Horizont.
«Mir ist langweilig.» Der Junge trippelt hin und her, kickt gegen eine lose Baumwurzel.
«Die Kraniche kommen um 17.50», sagt ein dicker Mann mit einem Fernglas um den Hals. «Kannst du die Uhr lesen?»
Der Junge nickt. «Klar, ich bin schon sechs. Ich gehe in die Schule.»
«Dann bist du ja schon groß.« Der Mann deutet auf seine Armbanduhr. «17.50. Morgen kommen sie ein paar Minuten früher.»
Die Frau zieht die Brauen hoch, starrt den Mann an verblüfft an, lacht. «Sie sind wohl bei der Flugsicherung?» Der Dicke zuckt gleichmütig mit den Schultern.
Sie blickt auf die Uhr. Wenn der Mann Recht haben sollte, – was eher unwahrscheinlich ist -, dann müssten sie nur noch 8 Minuten ausharren in diesem eisigen Oktoberwind, mitten im Teufelsmoor zwischen Hunderten von Vogelfans.
Schlag 17.50 erhebt sich von Südwesten her unglaubliches Geschrei. Ehe ein einziger Kranich zu sehen ist, vibriert die Luft von den Trompetenrufen der Vögel.
«Sie kommen», schreit der Junge, klatscht in die Hände, springt von einem Fuß auf den andern. «Sie kommen.»
Hunderte von schwarzen Punkten am Himmel, der Vortrupp eines riesigen Vogelschwarms, der sich von Minute zu Minute vergrößert. Aus allen Richtungen rauschen sie heran, erobern den Himmel mit ihrem ohrenbetäubenden Gekreisch.
Sie fliegen in V-Formation wie guttrainierte Geschwaderpiloten, sinken herab auf die moorige Erde, in das flache Brackwasser, das ihnen in der Nacht Schutz gibt vor räuberischen Feinden.
Die langen Hälse sind gestreckt, die Beine nach unten ausgeschwenkt, die riesigen, grau-weißen Flügel nach vorn gewölbt. Segelflieger über dem Brackwasser, schreiend, krächzend, Warnrufe ausstoßend. Die zum Landen ausgestreckten Beine werden wieder waagerecht nach hinten gestellt, eine neue Platzrunde. Der nächste Pulk kommt herein, sinkt, kreist über dem moorigen Land, gewinnt wieder an Höhe, dreht, kommt zurück, wagt die Landung, die langen Schnäbel vor Erregung geöffnet.
Ganze Familienverbände fliegen ein, bestimmen den Landeplatz mit ihren Kontaktrufen, sammeln sich auf dem sumpfigen Untergrund. Sie brauchen niemanden im Tower, der sie heruntertalkt, keinen elektronischen Landestrahl, sie folgen ihrem Jahrmillionen alten Instinkt. Wie Bremsschirme stellen sich die Schwanzfedern auf, der Körper sackt durch, die Beine zappeln. Im seichten Wasser picken sie nach Blättern und Gräsern, nach Würmern und Fröschen. Nur ein Nachschlag, denn satt sind sie, haben sich seit Tagen auf den herbstlich abgemähten Maisfeldern Fett angefressen für ihre lange Reise nach Süden.
«Mama, sind das Saurier?», flüstert der Junge. «Fliegende Saurier wie in meinem Saurier-Buch?»
«Das hast du gut beobachtet», mischt sich der Mann wieder ein. Ein Kranich sieht fast aus wie der Pterodaktylus, den kennst du sicher aus deinem Buch.»
Der Junge nickt. Pterodaktylus, der fliegende Saurier, den hat er im letzten August in Rosenheim gesehen, im Museum. Er hat seinen Vater besucht, wie immer in den Sommerferien. Zweimal waren sie in der Ausstellung, er und sein Vater, sie beide ganz allein, ohne die neue Schwester. Er hat versucht, die schwierigen Namen auswendig zu lernen: Pterodaktylus, Torosaurus, Isanosaurus. . .
«Warum sind die Kraniche jetzt hier?», fragt er den Mann.
«Es sind Zugvögel. Im Winter ist es im Norden so kalt, dass die Erde vereist und sie keine Nahrung mehr finden. Sie ziehen nach Südspanien, Portugal, manche bis Nordafrika. Dort überwintern sie und im Frühjahr fliegen sie wieder zurück.»
«Kennen die Vögel denn den Weg?», fragt der Junge.
«Den haben sie von ihren Eltern gelernt», sagt der Mann. «Der ist in ihrem Gehirn eingebrannt.»
«Ist Valentina auch ein Zugvogel?», fragt der Junge. «Manchmal ist sie da und passt auf Oma auf, und dann fährt sie wieder weg. Warum fährt sie wieder weg?»
«Das habe ich dir erklärt», sagt die Mutter. «Irina kommt aus Bosnien. Sie darf nur drei Monate in Deutschland arbeiten, dann muss sie wieder zurück. Und dann darf sie wiederkommen.»
«Aber Oma weint, wenn Irina wegfährt. Warum kann sie nicht bleiben?»
«Das ist kompliziert», sagt die Mutter. «Das verstehst du noch nicht.»
«Das sagst du immer», sagt der Junge. «Warum darf Irina nicht bleiben?»
«Sie hat zwei Kinder in der in der Ukraine», sagt die Mutter. «Die muss sie doch besuchen.»
«Warum bringt Irina ihre Kinder nicht mit? Oma hat doch eine große Wohnung.»
«Weil unser Staat das nicht erlaubt.»
«Warum erlaubt unser Staat das nicht?»
«Da kämen alle.»
«Aber die Kraniche dürfen doch auch alle kommen.»
«Stimmt», sagt der Mann. «Sieh mal, wie sie im Wasser stehen. Sie schlafen auf einem Bein. Willst du durchs Fernglas gucken?»
Es ist ruhiger geworden am Himmel. Nur kleinere Verbände lassen sich noch am Boden nieder, drängen sich dicht zusammen, verstummen, sind fast unsichtbar zwischen Röhricht und Wasserpflanzen. Die Menschen gehen zurück zu ihren Autos, die sie einen Kilometer entfernt auf der Straße geparkt haben.
Der Junge hüpft zwischen seiner Mutter und dem Mann hin und her.
«Ich will, dass Valentina bleibt. Und bei uns ist es gar nicht kalt. Oma hat doch eine Heizung!»
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