Im Altenheim

PflegerSie sitzt nahe am Fenster. Der Himmel ist grau und verhangen, das Zimmer dämmrig. Das Deckenlicht ist noch nicht angeschaltet, nur die kleine Tischlampe beleuchtet einen eckigen Tisch, der vollgeladen ist mit Fotos und Illustrierten. Eine Vase mit grünen Tannenzweigen und einer roten Blüte steht gefährlich nahe am Rand. Sie dreht den Kopf und schaut hinaus auf die kahlen Äste der Kastanie vor der Scheibe. Die tiefliegenden Augen in dem kleinen zerfurchten Gesicht blicken stumpf.
Seufzend dreht sie sich zum Tisch. Eine feingliedrige Hand mit einem Netz von hervorspringenden blauen Adern tastet über die geblümte Tischdecke. Sie findet, was sie sucht. Einen großen Wecker mit rundem Zifferblatt und schwarzen Zahlen auf weißem Grund. Sie zieht den Wecker zu sich heran. Hält ihn vor die Augen. Erst näher an das linke, dann an das rechte. Schüttelt den Kopf, streckt die rechte Hand aus und bewegt sie suchend über die Zeitschriften. Sie findet die Brille mit den dicken Gläsern, setzt sie auf, streicht sorgfältig die spärlichen grauen Haare über den Ohren glatt. Wieder hält sie den Wecker vor die Augen. Sie ist zufrieden diesmal, nickt und stellt die Uhr zurück auf den Tisch.
Sie fingert einen Augenblick an der Bernsteinkette an ihrem Hals, zieht einen länglichen Tischkalender zu sich heran. Sie setzt die Brille ab, tastet nach der Lupe neben dem Kalender und beugt sich über die Datenleiste.  Mit dem Finger verfolgt sie die einzelnen Tage. Sie stutzt. Ein Datum ist rot umrundet: 24. Dezember. Die Tage davor sind ausgestrichen. Sie murmelt „Weihnachten“ und um ihren eingefallenen Mund mit den dünnen farblosen Lippen spielt ein kurzes Lächeln. Sie streicht ihr geblümtes Seidenkleid glatt, greift wieder nach dem Wecker und zieht ihn zu sich auf den Schoß. Sie fasst auf die Reifen, versucht, den Rollstuhl in Bewegung zu setzen. Die Hände greifen immer wieder an die Räder, flattern wie Vögel, bleiben hilflos liegen. Der Stuhll bewegt sich nicht.. Die Reifen sind platt. Sie starrt blicklos auf die Tür. Unbeweglich. Die Uhr tickt im Schoß.


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One Response to “Im Altenheim”

  1. Gravatar of Gisela Gisela
    28. August 2010 at 17:55

    genaue Beobachtung – Geschichte regt zum Weiterdenken an, da die platten Reifen unerwartet waren, daher überraschendes Ende

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