Reisefieber

Von hier oben ist der Blick auf Madrid grandios. Doch die Luft ist stickig, auch wenn die schräge Dachluke einen Spalt geöffnet ist. Weiter kann man sie nicht aufmachen, sonst fliegen die Tauben herein, und in Windeseile ist der Dachboden vollgeschmiert mit einer ekligen Schicht weißlicher Taubenscheiße. Nicht dass es hier wertvolle Dinge gibt: eine ausrangierte Truhe mit angeschlagenem Geschirr, Pappkartons mit muffig riechenden Mänteln und Jacken. Ein alter Kinderwagen steht in der Ecke, mit geflochtenen elfenbeinfarbenen Seitenwänden und winzig kleinen Rädern. Von einem grünen Kaufmannsladen blättert die Farbe ab und die Türen klemmen. Unter der Schräge gammeln auf einem primitiv zusammengezimmerten Regal diverse  Plastiktüten mit abgetragenen Schuhen und Stapel von sorgfältig gebündelten Zeitungen vor sich hin. Zwischen all diesen ausrangierten Dingen, den Zeugen besserer Zeiten, hat man auch mich vergessen.

Dabei bin ich eigentlich gut in Schuss. Ich bin nicht eine dieser modisch-bunten Daypacks, die zwar gut aussehen, aber in die nichts hineinpasst. Nein, ich bin ein robuster, großer Lederrucksack, mit der man unbesorgt auf Reisen gehen kann. Mein voluminöser Bauch schluckt Hemden und Hosen, Unterwäsche und Regenzeug, und in den großen Reißverschlusstaschen an den Seiten steckten einst Sandalen, Waschzeug und der Reiseführer. Jan hat mich zum Abitur bekommen, von seinen Großeltern, die sein Fernweh verstanden haben. Jan hat mir die Welt gezeigt. Wir waren am Great Barrier Reef, haben in Sulawesi bei den Torajas gelebt, wir sind durch den brasilianischen Dschungel gekrochen, haben frierend auf dem Machu Picchu übernachtet und die Pinguine in Patagonien bewundert. Erst als Jan in Santiago de Chile hängenblieb, weil er sich verliebt hatte, wurde ich für zwei Jahre unters Bett geschoben.  Bis, ja, bis den armen Jan das Heimweh übermannte und er meinte, er müsse seine Ma und seinen Dad über Weihnachten in good old Germany besuchen. Er buchte einen Platz auf der Air Madrid Maschine von Santiago nach Frankfurt mit einem Zwischenstopp in Madrid. Mich stopfte er voll mit Weihnachtsgeschenken, so dass es kaum Platz gab für dicke Wintersachen. Ein dünner Pullover, ein Paar Jeans, ein bisschen Unterwäsche musste reichen. Natürlich vertraute er darauf, dass seine liebe Ma ihn schon wieder ausstaffieren würde, wenn er in Sommerbekleidung zitternd und bebend vor ihr stehen würde, ihr armer Junge.
So lag ich bald ganz unten im Laderaum einer Boeing 737 zusammen mit all den Koffern und Taschen und Rucksäcken der anderen Passagiere. Es war ziemlich eng hier unten, kalt und dunkel, und ich versuchte, die endlosen 14 Stunden von Santiago bis Madrid vor mich hinzudösen. Endlich ging die Klappe auf, schlecht gelaunte frierende Männer zogen Gepäckstücke heraus, warfen sie auf einen Elektrokarren und rollten davon. Es war dunkel, ein paar trübe Sterne funkelten am Himmel, und es war bitterkalt. Der Wind pfiff, und eigentlich war ich froh, als die Ladeluke zugeknallt wurde und ich wieder in meinen Dämmerschlaf versinken konnte. Wir hatten jetzt Platz und konnten uns ausbreiten. Es lagen keine schweren Koffer auf mir drauf und ich musste mir keine Sorgen mehr machen, dass die schönen Geschenke zerdrückt würden.
Ein paar Touristen stiegen zu. Ich hörte, wie die hohe Treppe herangerollt und wieder weggerollt wurde. Die Turbinen starteten, die Boeing 737 ruckelte  an und dann…
Ich sah durch das kleine Bullauge, wie von allen Seiten blaue Lichter auf das Flugzeug zurasten. Mit quietschenden Reifen hielten mehrere Polizeiautos vor dem Flugzeug und verbarrikadierten die Startbahn. Männer in Uniformen mit Maschinenpistolen über der Schulter schwenkten rotleuchtende Stoppschilder. Ein Megafon brüllte Sätze in unverständlichem Spanisch.
Ein Überfall? Mitten auf dem internationalen Flughafen von Madrid? Bahnte sich ein Horrorszenario an wie am 11. September in New York? Schlugen Al Kaida – Terroristen zu, getarnt als Polizisten?  Aber man hörte keine Schüsse, alles blieb ruhig. Der Motorenlärm erstarb wieder, Türen wurden geöffnet, Treppen herangerollt. Und dann sagte eine Stimme mit stark deutschem Akzent auf Englisch: «Dear passengers. This is the Captain speaking. We have got a small problem. Don‘ t worry, but you have to leave the plane. Our staff will help you to find a connection flight to Frankfort.»
Was war denn nun los? War das Flugzeug kaputt? Unwillig verließen die Passagiere die Maschine. Kein Zubringerbus weit und breit. Zu Fuß stapften sie zum Flughafengebäude, und das bei Schneeregen und Temperaturen unter Null. Männer brüllten herum, hysterische Frauen versuchten,  quengelige Kinder zu beruhigen.
Und dann wurde der Laderaum der Boeing wieder aufgerissen. Kalte Luft strömte herein und gierige Hände rissen Koffer und Taschen, Kisten und Pakete aus dem dunklen Bauch der Maschine. «Rapido, rapido», flüsterten heisere Männerstimmen. Endlich dämmerte es mir. Man hatte schon länger davon gemunkelt, dass Air Madrid vor der Pleite stand. Die Airline war pleite und das Flugzeug sollte an die Kette gelegt werden.  Die Gläubiger wollten Geld sehen, verständlicherweise, und ließen die Flugzeuge beschlagnahmen.  Aufgebrachte Arbeiter und Angestellte der Airline, die wahrscheinlich seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen hatten, rissen erst einmal alles an sich, was nicht niet- und nagelfest war. Sie würden sowieso keinen Pfennig sehen, wenn die Firma insolvent war.

Und so bin ich am Heiligen Abend in einer Altbauwohnung im Zentrum von Madrid gelandet. Gierige Hände wühlten in meinen Eingeweiden. Über Jans alten Pullover und die löchrigen Jeans war die Familie enttäuscht. Aber die bunten Pakete ließen die Gesichter leuchten. Sie brauchten nicht bis zum 6. Januar zu warten, denn diesmal waren es nicht Los Reyes Magos, die Heiligen Drei Könige, die die Geschenke brachten. Nein, der Weihnachtsmann selbst war vom Himmel herabgestiegen mit seinem Sack voller Gaben.
Vater und Großvater tranken den chilenischen Rotwein und rauchten die dicken Zigarren. Mama drehte sich vor dem Spiegel und betrachtete den neuen Schal und die langen Ohrringe. Die Großmutter strich liebevoll über die Tischdecke und der kleine Juan spielte den ganzen Abend mit dem roten Bagger. Da hat Jan ja mal ein wirklich gutes Werk getan, dachte ich. Schade, dass er nichts davon weiß und irgendwo frierend und hungrig im Flughafengebäude herumsitzt.
Mich hat man dann leider am nächsten Tag auf den Dachboden geschleppt. Geld zum Verreisen hat die Familie Santos nicht. Aber ich bin ganz optimistisch. Wenn ich nur einige Jährchen warte, bis Juan groß ist, dann wird auch ihn das Fernweh packen. Er wird mich herunterholen, mir den Staub vom Leder klopfen, seine Hosen, T-Shirts und Socken in mich hineinstopfen, und dann werden wir gemeinsam um die Welt fahren. Ich brauche nur noch ein bisschen Geduld. Paciencia.


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