Und darum wird beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt.
Und darum wird beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt. (Tucholsky)
Sie hört, wie sich die Tür langsam öffnet. Erschrocken zieht sie die Decke über den Kopf. Bitte, bitte nicht, wimmert sie in sich hinein. Lieber Gott, hilf mir. Aber die Tür öffnet sich weiter. Ihr Vater kommt leise ins Zimmer. Bis spät in die Nacht hat sie die Eltern streiten hören. Die schrille vorwurfsvolle Stimme der Mutter, die dunklen, lallenden Worte des Vaters. Seine Entschuldigungen, seine Versprechungen. Und nun sucht er wieder Trost bei ihr. Sie riecht den Alkoholatem, als er sich an sie schmiegt. Darf sie ihn im Stich lassen, jetzt, wo es ihm so schlecht geht? Sie versucht, von ihm wegzurollen, aber er hält sie fest. Nicht bewegen, sagt sie sich, ruhig atmen, er wird gleich einschlafen. Sie schiebt die Hand weg, die sich zwischen ihre Beine gelegt hat.
Verena schreckt aus dem Schlaf auf. Ihr Puls hämmert, sie hat das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
„Was ist, Liebling?“ Wilfried rückt von ihr ab, richtet sich auf, macht das Licht an. „Hast du wieder so schlimm geträumt?“
Beruhigend streckt er die Hand aus und versucht, sie zu streicheln. Ihr Körper zieht sich zusammen, erstarrt, geht auf Abwehr. Er zieht die Hand zurück, verletzt. »So geht es nicht weiter«, murmelt er und rollt sich an die Wand. »Wir müssen uns Hilfe suchen.«
Verena kommt am nächsten Morgen sehr spät zum Frühstück hinunter, Wilfried ist nirgendwo zu sehen. Der Frühstückstisch ist – wie immer – liebevoll gedeckt: Müsli, klein geschnittene Obstschnitzel, Brot, Butter, die selbst gemachte Himbeermarmelade, alles steht bereit. In der Kaffeemaschine brodelt der Kaffee. Verena reibt sich über die verquollenen, dunklen Augen, streicht mit einer Hand durch ihr wirres, braunes Haar und gießt sich einen Becher Kaffee ein. Er wird joggen gegangen sein, das tut er immer, wenn er sich abreagieren muss. Sie hat ihm nicht versprochen, dass es leicht werden wird, wenn sie nach den vielen Jahren zusammenziehen. Zum ersten Mal in eine gemeinsame Wohnung. Es war sein Wunsch, sie hätte nicht nachgeben sollen.
Verena zieht die schmale Schublade im Küchenblock unterhalb des Kühlschranks auf. Sie wühlt zwischen den Papieren und Schlüsseln, schiebt die Scheckkarte beiseite, den Bibliotheksausweis und auch die vier 50-Euro-Scheine, die sie nicht in ihrem Portemonnaie mit herumschleppen will, und dann hält sie den Brief in Händen. Den Brief, der vor zwei Jahren ihr ruhig dahinplätscherndes Leben durcheinandergebracht hatte. Sie kann sich genau erinnern.
Er war mit der Post gekommen. Die Adresse mit Schreibmaschine geschrieben. Kein Absender. Werbung, dachte sie spontan. Weg damit ins Altpapier. Aber die Neugierde überwog. Sie riss den Umschlag auf, erkannte die Unterschrift und schloss für einen Moment die Augen. Sollte sie den Text überhaupt lesen? Es war alles so lange her. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl, legte das Blatt mit den energischen, schräg nach rechts zeigenden Buchstaben vor sich auf den Tisch, nahm die Lesebrille vom Zeitungsstapel.
Liebe Verena,
wenn du diese Zeilen liest, hast du meinen Brief wenigstens nicht zerrissen. Ich habe überlegt, ob ich meinen Absender auf der Rückseite angeben soll, mich dagegen entschieden. Ich hatte Angst, du würdest den Brief sofort in den Mülleimer werfen.
Ich habe deine Adresse im Internet gefunden. Du trägst immer noch denselben Namen, den Namen deines Exmannes. Hast du nie wieder geheiratet? Entschuldigung, ich weiß, ich bin nicht berechtigt, dir diese Frage zu stellen. Ich bin der Letzte, der dich nach deinem Privatleben fragen darf.
Deine Enttäuschung, Verzweiflung und Wut damals konnte und kann ich verstehen. Die Tatsache, dass ich meine Frau nicht verlassen wollte, obwohl du von mir ein Kind erwartetest, hast du mir nicht verziehen. Ich bin ein Mann, der seine schwangere Freundin im Stich gelassen hat. Trotz aller Liebesschwüre.
Ja, Verena, du warst die Liebe meines Lebens. Und trotzdem – ich konnte Renate nicht verlassen. Es ging einfach nicht. Die Argumente kennst du alle: mein konservatives Elternhaus, Renates labiler Gesundheitszustand, meine finanzielle Abhängigkeit, die dörfliche Enge, der gemeinsame Freundeskreis. Du hast nichts gelten lassen.
Du warst auf einmal verschwunden, spurlos verschwunden. Auch von deinen Freundinnen konnte ich die Adresse nicht erfahren. Ich solle dich in Ruhe lassen, stand auf dem Zettel, den du mir geschrieben hast. Julia sei dein Kind, ganz allein dein Kind. Sie bräuchte keinen Vater wie mich. Ich habe deinen Willen respektiert, was blieb mir auch anderes übrig? Sogar die monatliche Unterhaltszahlung kam zurück.
Es ist so viel Zeit vergangen seitdem, und ich hoffe, dass es dir und unserer Tochter gut geht. Meine Ehe war eine Katastrophe, war sie immer. Ich bin nicht aus Liebe bei Renate geblieben, sondern aus Pflichtgefühl. Ich hatte Angst, sie würde sich etwas antun. Vielleicht hattest du ja Recht. Ich war und bin ein Feigling, der Konflikten aus dem Weg geht.
Seit einem Jahr bin ich pensioniert, Renate ist vor sechs Monaten gestorben. Keine Angst, ich will nichts von dir. Du bist und warst nie zweite Wahl! Aber ich besitze ein schönes Haus mit einem großen Grundstück, und das möchte ich unserer Tochter vermachen, wenn sterbe. Renate und ich, wir hatten keine Kinder. Es gibt Nichten und Neffen, gewiss, aber ist nicht unsere Tochter Julia die einzig rechtmäßige Erbin? Sie hat Anspruch auf das Vermögen ihres Vaters, auch wenn er sich nicht um sie gekümmert hat. Eine Art verspätete Wiedergutmachung, wirst du denken. Vielleicht ist es so. Aber unsere Tochter ist mittlerweile erwachsen. Lass sie selbst entscheiden. Mach es ihr bitte nicht zu schwer. Du brauchst mich nicht wiederzusehen, wenn du nicht willst, aber lass mich Kontakt zu unserer Tochter aufnehmen. Bitte, sprich mit ihr.
Ich hoffe, es geht dir gut.
Wilfried
Verena gießt sich noch einen Becher Kaffee ein. Hunger hat sie keinen, das macht aber nichts, sie ist sowieso zu dick. Jetzt mit Ende fünfzig scheint sich jede Kalorie in ihrem Körper festzusetzen. Er möge pummelige Frauen, sagt Wilfried, die sähen jünger aus, hätten weniger Falten. Aber neben seinem drahtigen durchtrainierten Körper kommt sie sich plump und ungeschickt vor. Sie schließt die Augen. Bilder tauchen auf.
Der alkoholkranke Vater, der immer wieder Trost bei seiner kleinen Tochter suchte. Nein, er hatte sie nicht vergewaltigt, aber Missbrauch war es trotzdem, was er mit dem kleinen Mädchen getrieben hatte, um sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Nähe auszuleben. Die Scheidung der Eltern und der frühe Tod des Vaters, die Jahre mit einer verbitterten Mutter, deren Depression sich wie eine erstickende Decke über die Tochter legte und ihr die Luft zum Atmen nahm, hatten sie geprägt, das hatte sie erst später in der Therapie begriffen. Gerade mal neunzehn war sie, als sie sich in Heiners Arm flüchtete.
Heiner, der edle Ritter, der die gefangene Prinzessin befreite. Der Märchenprinz. Den lustigen Tausendsassa Heiner hatte Verena in der Disco kennen gelernt, mit ihm erschien das Leben leicht, seinen regelmäßigen Alkoholkonsum übersah sie. Später der Streit, wenn er von seinen Sauftouren nachhause kam und sich im Bett über sie hermachen wollte. Die Handgreiflichkeiten, seine Zerknirschung und die Tränen am nächsten Morgen, die gebrochenen Versprechungen, eine vertraute Erfahrung aus ihrer Kindheit. Sie glaubte, Heiner ändern zu können und scheiterte, wie auch ihre Mutter gescheitert war.
Eines Nachts hatten die Nachbarn die Polizei geholt, als der Lärm unerträglich geworden war. Polizisten hatten die Tür aufgebrochen. Verena hatte zusammengekauert an der Küchenwand gehockt, die Arme schützend über dem Kopf. Heiner hatte sie zusammengeschlagen, als sie ihm sagte, sie wolle gehen. »Hure!«, hatte er geschrien. »Du haust nicht ab. Du gehörst mir!«
Mit ein paar Schritten war der große, schlanke Polizeibeamte bei Heiner gewesen, hatte ihn überwältigt, aus der Wohnung bugsiert, um ihn in eine Ausnüchterungszelle zu bringen. »Können wir noch etwas für Sie tun?«, hatte er gefragt, und seine blauen Augen hatten sie ernst und besorgt angesehen. »Sind Sie verletzt? Sollen wir Sie ins Krankenhaus bringen?«
»Nein, es geht schon», hatte sie geflüstert.«Ich gehe zu meiner Mutter.» Was natürlich auch keine Lösung war, wie sie nach ein paar Tagen feststellte, als sie das Gejammer der älteren Frau nicht mehr aushielt.
Sie suchte sich eine eigene Wohnung, hinter Heiners Rücken, der immerhin durch die nächtlichen Ereignisse so geschockt war, dass er für ein paar Wochen trocken blieb und verzweifelt um sie warb. Diesmal wiederholte sie nicht den Fehler ihrer Mutter. Sie blieb hart. Erstattete Anzeige wegen Körperverletzung und wiederholter Vergewaltigung. Vor Gericht sah sie den Polizeibeamten wieder als Zeugen des nächtlichen Vorfalls. Er begleitete sie nach der Verhandlung nach Hause.
Wilfried war fürsorglich gewesen, behutsam in seinem Werben um sie. So ganz anders als Heiner. Es machte ihr nichts aus, dass er verheiratet war. Unglücklich verheiratet, wie er sagte. Aber das sagten ja alle treulosen Ehemänner. Verena war das egal. Sie wollte sowieso keine feste Beziehung mehr, kein Zusammenleben in engen vier Wänden. Es reichte ihr, ihn ab und zu sehen, wenn sein Dienstplan ihm ein Alibi verschaffen konnte. Sie gingen nicht viel aus, Wilfried fürchtete erkannt zu werden, und Verena genoss dieses Zusammensein ohne Stress, ohne Ansprüche. Noch nie war sie einem so umsichtigen Mann begegnet. Einem Mann, der ihre Grenzen achtete, der Rücksicht nahm. Der Sex mit ihm war zärtlich und leicht, fern von Gewalt und Ekel. Kein Rausch, in dem sie alles vergaß, sondern ein körperliches Zusammensein, das ihr gut tat, sie befriedigte, sie stärkte für den Alltag. Ein Gynäkologe hatte ihr schon vor Jahren gesagt, sie könne keine Kinder bekommen, beide Eileiter seien verklebt, und so mussten sie noch nicht einmal verhüten. Es machte ihr nichts aus, dass Wilfried nicht von Scheidung redete. Seine Frau wurde nie erwähnt, so als existiere sie gar nicht. Natürlich war Verena oft allein, doch die kurzen Reisen, die sie sich ermöglichten, die heimliche, gestohlene Zeit waren ihr genug. Wenn Wilfried kam, machte sie sich schön für ihn, kochte ein Essen, war glücklich in den Stunden mit ihm. Über die Zukunft sprachen sie nicht.
Doch dann geschah etwas, womit beide nicht gerechnet hatten. Verena wurde schwanger. Als der Gynäkologe, den sie wegen unklarer Unterleibsbeschwerden aufgesucht hatte, sagte, sie sei in der zehnten Woche, zog es ihr den Boden unter den Füßen weg.
«Sind Sie sicher?« Ihre Stimme war zittrig. »Ein Frauenarzt hat mir vor ein paar Jahren gesagt, ich könne keine Kinder bekommen.« Der Doktor lachte, tätschelte ihr väterlich die Schulter und sagte: »Da hat sich der Kollege aber bös geirrt. Herzlichen Glückwunsch. Wird ja auch Zeit, Sie sind bald dreißig und eine gesunde, junge Frau.« Doch dann stutzte er, schaute auf ihre Hände. »Sie sind nicht verheiratet?«
»Nein, geschieden«, murmelte Verena. »Mhmm«, machte der Arzt. »Wenn Sie Hilfe brauchen.«
»Nein«, sagte Verena schnell. »Ich schaffe das schon«, zog sich in Windeseile an, raffte ihre Sachen zusammen und verließ fluchtartig das Untersuchungszimmer. »Das müssen allein Sie entscheiden. Ich habe da eine Adresse«, rief er ihr nach. Sie wollte keine Adresse.
Verena steht vom Tisch auf, geht hinaus auf den kleinen Balkon, zündet sich eine Zigarette an, die einzige des Tages. Unten im Park blühen die Forsythien, auch die Narzissen auf dem Rasen haben die Wühlmäuse in diesem Jahr nicht angefressen. Die Apfelbäume leuchten in ihrer weiß-rosa Blütenpracht. Wie damals nach dem Arztbesuch, als sie in die warme Frühlingsluft hinausgetreten und durch den kleinen Stadtpark gewandert war. Auf einer Bank hatte sie sich eine Zigarette angezündet, sie aber sofort ausgedrückt, als sie an das neue Leben dachte, das in ihr heranwuchs. Eines wusste sie vom ersten Moment an ganz sicher, sie wollte dieses Kind bekommen. Egal, was Wilfried sagen würde.
«Egal, was du sagst, ich werde dieses Kind bekommen«, sagte sie in Wilfrieds entsetztes Gesicht hinein. Und auch, als er ihr klarzumachen versuchte, dass er sich nicht von seiner Frau scheiden lassen könne, da diese labil und krank und selbstmordgefährdet sei, war sie nicht von ihrem Entschluss abzubringen. »Denkst du, er wird es sich anders überlegen, wenn das Kind erst auf der Welt ist«, fragte eine Freundin. Verena zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber ich komme auch allein zurecht.« Stark fühlte sie sich mit dem Kind im Bauch. Stark und mutig und unabhängig.
Natürlich verging die Euphorie. Ihr Bauch wurde dicker, das Leben beschwerlicher. Wilfried zog sich immer mehr zurück. »Du brauchst mich ja nicht«, sagte er. »Du triffst deine Entscheidungen ohne mich.«
Ins Krankenhaus brachte er ihr einen riesigen Strauß roter Rosen. Er nahm die kleine Tochter in die Arme. »Ich werde für euch sorgen«, sagte er. »Darauf kannst du dich verlassen.« Er zahlte großzügig. Verena konnte sich nicht beklagen. Und er kam, so oft es ihm möglich war. Badete das Kind, wickelte es. Ein liebevoller Vater.
Dann kam der Tag, der alles ändern sollte. Verena war mit dem Baby im Kinderwagen im Stadtpark spazieren gegangen, und als das Baby schlief, schob sie den Wagen in ein Gartencafé am See, setzte sich an einen der runden weißen Tische und bestellte sich einen Kaffee, genoss die Ruhe, blickte auf die sich silbrig kräuselnden Wellen. Plötzlich hörte sie seine Stimme, ruhig, dunkel, unverkennbar. Sie drehte sich um. Er saß an einem der Tische weiter hinten und unterhielt sich mit einem ihrer Kollegen aus der Stadtverwaltung. Es saßen noch zwei Frauen am Tisch, sie wusste nicht, ob eine von ihnen Wilfrieds Frau war. Verena hatte er offensichtlich nicht wahrgenommen. Ihr war die Lust auf einen Kaffee vergangen. Sie legte das Geld auf die Untertasse, stand auf und fuhr den Kinderwagen mit dem schlafenden Baby direkt an seinem Tisch vorbei. Sie würde nicht einfach verschwinden, dachte sie. Der Arbeitskollege sah sie, sprang auf, begrüßte sie euphorisch, ein Küsschen rechts, ein Küsschen links und stellte sie einander vor. Sie sah Wilfrieds Anspannung, seine unruhigen Augen, seine zusammengekniffenen Lippen.
»Was für ein süßes Baby«, sagte Wilfrieds Frau und beugte sich über den Kinderwagen. »Junge oder Mädchen?«
»Sie heißt Julia«, sagte Verena und blickte Wilfried an, der versteinert an ihr vorbei sah. »Sie wacht gleich auf. Dann will sie ihr Fläschchen haben.« Sie verabschiedete sich souverän, würdigte Wilfried keines Blickes. Ihre Entscheidung war gefallen.
Eine Bekannte hatte sie auf die Stellenanzeige aufmerksam gemacht. Aus Berlin. Gesucht wurde eine Verwaltungsangestellte im Familienministerium. Noch am Abend schickte sie ihre Bewerbung ab. Wilfried rief am nächsten Tag an, sie weigerte sich, ihn zu sehen. Zwei Wochen später der Umzug nach Berlin. Sie hinterließ keine Adresse, seine Unterhaltszahlungen gingen an ihn zurück. Sie hatte ihr Konto bei der Sparkasse gekündigt.
Natürlich war es nicht einfach in Berlin, aber es gab günstigen Wohnraum und Kitas mit vernünftigen Öffnungszeiten. Allein erziehende Mütter, die wie sie ihr Leben organisieren mussten, lernte sie schnell kennen. Die Frauen unterstützten sich gegenseitig. Verena liebte die Großstadt mit ihren grünen Parks und Spielplätzen, die Radwege um die Seen, ihre Arbeit, das kulturelle Angebot der Hauptstadt. Sie lebte eine Freiheit, die sie nie vorher gehabt hatte. Ab und zu gab es einen Mann in ihrem Leben, aber mit keinem zog sie zusammen. Sie war oft gestresst, aber meistens zufrieden.
Als Julia älter wurde und nicht mehr so viel Betreuung brauchte, ging sie nebenher zur Verwaltungshochschule und qualifizierte sich für eine besser bezahlte Stelle. Julia war ein unproblematisches, waches Kind, das in der Grundschulzeit öfter nach seinem Vater fragte, aber mit der Zeit ein männliches Mitglied in der Familie nicht zu vermissen schien. Nach den üblichen Pubertätsturbulenzen hatte Julia Abitur gemacht, Sprachen studiert und einen Kommilitonen geheiratet. Das erste Kind war unterwegs und Verena freute sich auf ihr Enkelkind.
Dann kam Wilfrieds Brief. Und natürlich wollte Julia ihren Vater kennen lernen. Sie kam aufgewühlt und beeindruckt von dem ersten Treffen zurück. »Mama, er ist wirklich nett und er würde dich gerne wiedersehen«, sagte Julia. Nein, Verena wollte ihn nicht sehen. Auch nach so vielen Jahren nicht. Wie sich aber herausstellte, waren die bürokratischen Hürden in der Erbangelegenheit besser zu bewältigen, wenn sie sich mit Wilfried zusammensetzte, um juristische Fragen zu klären. Sie gab nach, Julia zuliebe. Und verliebte sich erneut in ihn.
Verena geht ins Haus zurück, schließt die Terrassentür. Sie beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen. Es ist ihr freier Tag heute, sie will in Ruhe nachdenken und geht ins Badezimmer. Im heißen Wasser kann sie sich am besten entspannen. Was hatte Wilfried in der Nacht gesagt? »Wir müssen uns Hilfe suchen.« Verena prüft mit den Zehen das Wasser, zieht den Fuß zurück, lässt kaltes Wasser nachlaufen, gleitet langsam und wohlig seufzend in die Wanne. Denkt er wirklich, eine Paarberatung könne ihnen helfen?
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