Richthofens Erben
Aaron würgt noch schnell das Frühstück runter, zwei Tassen Kaffe, eine Zigarette. Ideales Flugwetter. Er sprintet über das Flugfeld zu seiner Maschine, zieht noch im Laufen den Reißverschluss seiner roten Kombi hoch. Neben ihm fünf seiner Kameraden, angespannt, konzentriert, aber mit leuchtenden Augen. Wie vor der Bescherung. Der leichte Septembernebel wird sich lichten, hat die Flugsicherung versprochen. Endlich wieder Tiefflugwetter.
Die kurzen Flügel der Jagdbomber reflektieren die ersten Sonnenstrahlen. Der junge Pilot klettert ins Cockpit, führt die Gurte des Schleudersitzes durch die Ösen, hakt sie fest, setzt den Helm auf, passt die Sauerstoffmaske an, checkt die Instrumente. Hintereinander rollen sie zum Start. Ein Jet nach dem andern hebt ab, Aaron sieht die silbernen Streifen der vor ihm gestarteten Flugzeuge. Die Piloten sind eins geworden mit ihren Maschinen. Bohren sich in den Himmel. Göttersöhne.
Sie fliegen den Schießübungsplatz an. Aaron wirft seine Bomben, zielgenau. Lob des Schwarmführers übers Mikrofon. Aaron hebt seinen Arm, spreizt Zeigefinger und Mittelfinger zum V. Doch Krieg liegt jenseits seiner Vorstellungskraft. Bombenterror, verstümmelte Leichen und Tod, das war Sache seines Großvaters, seines Vaters. Er will fliegen, den Rausch der Geschwindigkeit spüren, wenn er den Gashebel nach vorn schiebt, den Steuerknüppel an den Bauch zieht. Steilflug in den Himmel, dann Kurs nach Osten. Single seat, single engine. Für eineinhalb Stunden Sprit im Tank.
In Sechser-Formation donnert das Geschwader in 800 Fuß Höhe über die norddeutsche Tiefebene. Die Schleuse von Brunsbüttel-Koog. Der Nordostsee-Kanal, eine sich windende fette Schlange. Die Kieler Bucht und das blaugraue Wasser der Ostsee. Weiße Spielzeugschiffe glitzern im Sonnenlicht. Unter ihnen die große Brücke über dem Fehmarnsund. Rotbraune Bauernhäuser, Dorfkirchen, dazwischen Wiesen und Feldern, Legolandschaft. Keine Turbulenzen heute. Die Jagdbomber liegen wie Bretter in der Luft, reagieren auf den kleinsten Druck. Zurück zum Fliegerhorst. Schon.
Aaron kennt seinen Platz in der Formation. Arrowhead. Jeder Pilot weiß, wo er hingehört. Jahrelanges Training. Dass sein Vogel beim Landeanflug instabil wird, damit hat Aaron nicht gerechnet. Er braucht eine Außenposition. Funkt den Piloten rechts außen an, um mit ihm die Plätze zu tauschen. Der Idiot reagiert nicht, hat wohl die Frequenz nicht eingestellt. Aaron macht wilde Handzeichen. Guck rüber, sofort. Der Fliegerkamerad schaut auf, nimmt den Kopf schnell runter. Gott sei Dank, er hat verstanden. Eine Rolle über ihn weg, um nach außen zu gelangen. Leichte Übung. Plötzlich ein ohrenbetäubender Schlag. Wie ein Schwerthieb. Ist der Pilot unter ihm auch aus der der Formation ausgebrochen? Mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel sieht Aaron einen seiner eigenen Tiptanks wegfliegen. Die Flugzeuge müssen sich touchiert haben. Die Steuerung reagiert nicht mehr. Sind die Hydraulikleitungen beschädigt? Der Vogel nimmt die Nase nach unten. Für den Bruchteil einer Sekunde ein Anflug von Panik. Adrenalin schießt durch Aarons Adern. Entscheidung in Sekundenschnelle. Wer vorm Fliegen Angst hat, soll zu Hause bleiben, hatte man ihnen schon während der Ausbildung eingebläut – und immer wieder den Notfall simuliert. Gebrüll ins Mikro «Ich steige aus!» Er hebt den Arm, zieht am Griff über ihm. Der Martin-Baker feuert ihn in den klaren Herbsthimmel. Als der Sitz unter ihm wegfliegt und der Fallschirm sich entfaltet, hängt er gut und sicher in den Seilen, ohne in Gefahr zu sein, vom eigenen Schleudersitz erschlagen zu werden. Wie es dem Kameraden in Phoenix ergangen war, dessen Fell sie versoffen hatten, wie es am Abend im Kasino hieß, um weiterhin an die eigene Unsterblichkeit glauben zu können. An der Wand zersplitterten die leeren Gläser.
Aaron segelt durch die Luft, fühlt den kühlen Wind im Gesicht. Sein Puls beruhigt sich, er geht in Gedanken die Einzelheiten der Landung durch. Mit den Händen oben die Fallschirmgurte umklammern, Ellbogen anwinkeln, Knie gebeugt, sich zur Seite abrollen lassen.
Und dann erst nimmt er den Geruch von Qualm und Feuer wahr. Sieht das brennende Gehöft, hört die Schreie von Menschen, das Brüllen von Kühen, das hysterische Quieken der Schweine. Das Heck des Bombers ragt aus dem brennenden Dach. Überall Trümmer.
Er schließt die Augen. Schlägt hart auf dem Boden auf. Hört das Knirschen der Knochen, als die Beine brechen. Krieg, durchzuckt es ihn, ehe Schwärze ihn verschlingt. Krieg.
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