GAU
Ich schrecke hoch. Ein auf- und abschwellender Heulton sticht in mein Trommelfell. Pause, dann ein erneutes Jaulen. Wieder Stille. Mit schweißnassen Händen ertaste ich den Radiowecker über meinem Kopf, drehe am Sendeknopf. Fernes Rauschen.
Mein Herz rast. Ich strampele die Bettdecke weg. Das Nachthemd klebt am Körper. Angespannt horche ich in die Dunkelheit. Nichts. Auch vom Kinderzimmer nebenan kein Laut. Ich dämmere weg. Wieder die Sirene.
Wo ist Wolfgang? Wie gern würde ich seine tiefe Stimme hören, seine Hand auf meinem Arm spüren. Ich reiße die Augen auf. Undurchdringliche Schwärze. Kein Lichtstrahl dringt durch die hölzernen Rollos. Bestimmt Probealarm. Die Kinder scheinen nichts gehört zu haben. Obwohl Lina einen leichten Schlaf hat. Sonst wacht sie bei dem kleinsten Geräusch auf und krabbelt zu mir ins Bett, drückt ihren kleinen, warmen Po an meinen Bauch. Wieder der nervtötende Jaulton.
Und dann höre ich die aufgeregte Stimme des Nachrichtensprechers. „Kerntechnischer Unfall im AKW Esensham. Eine radioaktive Wolke wird vom Nordwestwind Richtung Bremen getrieben. Die Bevölkerung in der Region muss sich für eine Evakuierung bereithalten. Nähere Anweisungen folgen.“
Ich bin wie gelähmt. Wie weit ist Bremen – Vegesack von Esensham entfernt? 30 km? 40 km? Ich versuche, mich aufzurichten. Das kann nicht wahr sein. Haben wir nicht erst am Ostermontag das Kernkraftwerk umzingelt? Die schrecklichen Bilder aus Fukushima haben uns doch alle wachgerüttelt. Fünftausend Menschen haben „Abschalten, abschalten!“ gerufen, die gelben Fahnen mit der roten Sonne aus dem Keller geholt. „Atomkraft – nein danke!“
Das Heulen der Sirenen beginnt von neuem. Ich schiebe mich aus dem Bett, meine Arme und Beine schwer wie Blei. “ Sagen Sie Ihren Nachbarn Bescheid!“, sagt der Radiosprecher. Ich reiße die Tür zum Kinderzimmer auf.
“ Mama?“, fragt Lina sofort. Schießt senkrecht im Bett hoch.
„Aufstehen!“, sage ich und versuche, die Panik in meiner Stimme zu unterdrücken. „Wir verreisen.“
„Wohin denn?“ Lina ist hellwach. Sie klettert aus dem Kinderbett, ihre rotblonden Locken wie ein Heiligenschein.
„Abenteuer“, sage ich betont munter und streife ihr Hose und Pullover über.
„Pack ein paar Spielsachen in deinen Rucksack.“
„Mein Teddy“, Lina kriecht unters Bett. „Und mein Puppenwagen!“
Mit Jan ist es schwieriger, er schläft wie ein Stein.
„Steh auf!“ Ich rüttele den Neunjährigen, ziehe ihm die Bettdecke weg.“Wir müssen weg! Schnell.“
Jan knurrt unwirsch, dreht sich um, schläft sofort wieder ein.
„Jan, raus aus dem Bett!“ Ich werde laut. „Sofort!“
Ich renne hinunter in die Küche. Mache das Radio an. Gerade werden die Sammelstellen durchgegeben.
„Es besteht kein Grund zu Panik! Die Evakuierung ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.“
Ihr Lügner, denke ich, verdammte Lügner. Angeblich würden genügend Busse eingesetzt und an den Haltestellen der Hauptverkehrsstraßen warten. Sonderzüge eingesetzt.
„Es wird dringend abgeraten, das eigene Auto zu benutzen.“
Ich zerre die Jeans hoch, streife den Wollpullover über. Auf links. Egal. Wo sind die Pässe? Bargeld brauche ich, Scheckkarten, alles andere ist unwichtig.
In Panik fliehende Menschen. Hoffnungslos verstopfte Straßen. Kilometerlange Staus auf den Autobahnen, verfolgt von einer radioaktiv verseuchten Gewitterwolke. Längst verdrängte Szenen aus einem Jugendbuch flackern durch mein Gehirn.
„Kinder, seid ihr fertig?“
Lina bettelt. „Mami, darf ich …“
„Nein“, brülle ich. „Nur was in deinen kleinen Rucksack passt.“
„Aber wo ist mein Teddy?“
„Weiß nicht. Wir kaufen einen neuen!“
„Ich will aber meinen Teddy. Ich will keinen neuen.“ Lina wirft sich auf den Boden.
„Wo ist Jan?“
„Weiß nicht“, schluchzt sie.
Ich hechte die Treppe hinauf. Tatsächlich, Jan ist wieder eingeschlafen.
„Raus, sofort!“ Ich zerre an seinem Arm. Jan ist völlig verstört, die Augen noch verklebt vom Schlaf. Blass.
„Wir müssen weg. Sofort!“, sage ich. Meine Stimme zittert.
„Warum?“
„Erklär ich dir später.“
Wo, verdammt noch mal, ist der Vater der Kinder? Natürlich auf Geschäftsreise. Wie immer, wenn man ihn braucht.
Ich greife wahllos nach ein paar Lebensmitteln: Brot, Wurst, ein paar Flaschen Wasser. Stopfe alles in einen Rucksack.
„Mama, darf ich mein ferngesteuertes Auto mitnehmen?“.
Gott sei Dank, Jan steht in der Küche.
„Nein, das ist zu groß.“
„Aber dann wenigstens meinen Ball“, mault Jan und verschwindet wieder nach oben.
Ich öffne die Haustür. Stimmengewirr. Leute hasten in der Dunkelheit an mir vorbei. Automotoren heulen auf. Hupen. Hysterische Frauenstimmen.
Ich schiebe Lina aus der Tür, umklammere ihre kleine Hand.
„Jan, komm! Lass den Ball!“
Es fängt an zu nieseln. Auch das noch. Wie vor 25 Jahren. Tschernobyl. Tagelang haben wir die Kinder im Haus gehalten. Die Milch war verseucht, Sport- und Spielplätze gesperrt. Aber das hier ist schlimmer.
Die türkischen Nachbarn von nebenan rennen vorbei. Die Frau hat ihr Kopftuch nur nachlässig umgebunden, schiebt einen Kinderwagen, jammert laut. Der Mann hat die kleine Tochter auf den Schultern, beschleunigt seine Schritte..
Im Haus gegenüber stehen die alten Leute am Gartentor.
„Ich gehe nicht weg“, sagte die Frau. Sie bohrt ihre Krücken
in die Erde. „Ich bleibe hier.“
Der Mann redet verzweifelt auf sie ein, streichelt ihren Arm. Sie bleibt stur.
„Es hat sowieso keinen Sinn“, sagt sie. „Ich will hier sterben.“
Menschen strömen aus den Nebenstraßen, bewegen sich in Richtung Hauptstraße. Ich werde mitgeschoben. Mein Gehirn ist leer.
Lina lässt sich hängen. „Ich bin so müde, Mami!“
Ich nehme sie auf den Arm. Sie umklammert meinen Hals, schnürt mir die Luft ab.
Das junge Paar ein paar Häuser weiter hat wohl trotz der Warnung den Mazda aus der Garage geholt, hängt aber schon an der ersten Querstraße in der Menschenmenge fest. Ein Mann schlägt mit einem Stock auf das Autodach. Wütend über das Hindernis.
„Jan?“ Ich drehe mich um. Kein Jan hinter mir. Ich muss zurück. Aber ich werde erbarmungslos nach vorn gestoßen.
„Jan“, schreie ich.“Jan, ich bin hier! Hier!“
Polizisten stehen an der Straßenecke. Hilflos auch sie. Mit verstörten Gesichtern. Nichts erinnert mehr an die mit Schlagstöcken bewaffneten schwarzen Kohorten, die uns in Brokdorf zurück zu den Parkplätzen prügelten. Kreisende Hubschrauber. Tränengas.
Ich taumel weiter. Lina schwer wie einer nasser Sack.
Ein älterer Mann ist gestürzt. Versucht, sich aufzurichten. Zwei Jugendliche trampeln über ihn weg. „Passt doch auf, ihr Idioten!“ schreit eine Frau. Versucht, dem Mann die Hand zu reichen. Ihn aufzurichten. Er sackt zurück auf den Boden. Bleibt unbeweglich liegen.
Lina schluchzt jetzt laut. „Ich will nach Hause, Mami!“
Die Haltestelle. Die ersten Busse sind bereits gerammelt voll, setzen sich langsam in Bewegung. Menschen trommeln an Türen und Fenster. Junge Männer versuchen, sich hinten anzuhängen.
„Kinder und Frauen zuerst!“
Ein Polizist redet über Lautsprecher beschwörend auf die Menschen ein. „Es kommen noch mehr Busse!“
Keiner glaubt ihm. Das Chaos nimmt zu. Schwächere werden brutal zurückgedrängt. Wir sind nicht in Japan.
Ein neuer Konvoi von Bussen nähert sich. Direkt vor mir öffnet sich die automatische Tür. Wo ist Jan? Soll ich einsteigen? Ich versuche, mich umzudrehen, werde gegen die Stufen gepresst.
„Mein Sohn“, schreie ich. „Ich muss auf meinen Sohn warten.“ Die Menschen schieben mich in den Bus. Es gibt keinen Weg zurück. Eingekeilt stehe ich in der Meute. Versuche, Lina mit meinem Körper zu schützen. Die Türen schließen automatisch. Plötzlich Jans angstvoll verzerrtes Gesicht am Fenster. Er hämmert an die Tür.
„Mama, Mama!“, weint er.
Der Bus setzt sich in Bewegung.
„Anhalten! Sofort anhalten! Mein Kind!“
Der Bus nimmt Fahrt auf.
„Jan“, schreie ich. „Jan!“
Ich werde vom eigenen Schreien wach. Mein Herz hämmert wie verrückt. Das erste fahle Licht sickert durch die Rollos. Ich greife nach der Wasserflasche auf der Ablage, trinke ein paar Schlucke. Langsam komme ich zu mir. Lina ist doch längst erwachsen. Sie lebt mit den Enkelkindern in Süddeutschland. Jan arbeitet im Ausland.
Mit zitternden Knien gehe ich hinunter in die Küche, stelle die Kaffemaschine an, hole die Tageszeitung herein.
Es ist der 9. Mai . Der Weserkurier veröffentlicht auf Seite 3 den Katastrophenplan für die Evakuierung bei einem GAU im AKW Unterweser.
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5. Dezember 2012 at 21:49
Von der ersten bis zur letzten Zeile gut geschrieben, spannungsgeladen, nachvollziehbar. Ein unerwarteter,toller Schluß. Eine ausgezeichnete Geschichte!
24. Januar 2013 at 19:58
Sehr spannende Geschichte. Und besonders eindrücklich für Leute wie mich, die sich noch gut an Tschernobyl erinnern können.