Lourdes
Auf dem Bahnsteig wimmelt es von Kranken und Behinderten. Ieva würde am liebsten die Flucht ergreifen. Weißgekleidete Pfleger hieven Rollstühle und Krankenbetten in die Waggons. Sie versucht, nicht hinzustarren. Ein ganzer Zug für die Osterwallfahrt von München nach Lourdes. «Jetzt wird nicht gekniffen, Ieva », sagt ihre Freundin Elena, packt sie am Ellbogen und schiebt sie energisch zu ihrem Abteil. Wildes Gedränge, bis alle ihre Plätze gefunden haben, die Gepäckstücke verstaut, die Rollstühle verankert sind. Der Zug setzt sich in Bewegung. Eine lange Fahrt. Über 20 Stunden werden sie unterwegs sein. Ieva macht die Augen zu. Ihr gegenüber scherzt ein behinderter Mann mit seinem Pfleger. Was gibt es da zu lachen? Und vorne im Großraumwagen fängt eine Gruppe Pilger an, Marienlieder zu singen. Das kann ja heiter werden.
Am Morgen nach der Ankunft gehen Ieva und Elena mit Hunderten von Pilgern den Pfad hinunter in Richtung der heiligen Grotte. Vor ihnen laufen drei Nonnen in ihren schwarzen Gewändern, temperamentvoll gestikulierend und in einer Sprache redend, die sie nicht verstehen. Eine alte Frau hat sich nah an den Felsen gehockt, die Röcke gerafft, lässt ihr Wasser laufen. Ieva schaut weg. Muss das sein? Ein älterer Herr überholt sie in einem motorisierten Rollstuhl mit blauem Regendach. Elegant umkurvt er die Unebenheiten des Bodens. Fährt fast in eine Gruppe italienischer Pilger, hebt entschuldigend die Hand. Braust weiter. Der soll doch aufpassen. Sitzt selbst im Rollstuhl. Wieso schimpft niemand?
Auf dem Platz im heiligen Bezirk werden unzählige Lourdes-Madonnen angeboten. Madonnen in allen Größen. Das immer gleiche kindliche Gesicht, die blauen Augen gen Himmel gehoben, die Hände fromm gefaltet. Das ist doch Kitsch, Kitsch, Kitsch, denkt Ieva. Und dann dieses weiße Gewand, die Haare unter einem Schleier. Züchtig bedeckt. Auf jedem Fuß eine gelbe Rose. Wirklich, eine gelbe Rose. Genauso hatten die Hirtenmädchen die Erscheinung beschrieben. «Ich bin die Unbefleckte Empfängnis», hatte sie zu den Kindern gesagt. Ein Märchen. Für kindliche Gemüter.
Babylonisches Sprachgewirr. Marien-Lieder dudeln aus Lautsprechern. Tausende von Menschen drängen sich an den Tischen vorbei, kaufen eine oder gleich mehrere der geklonten Marienfiguren. Flaschen mit heiligem Quellwasser, Kerzen. Auch Plastikblumen finden reißenden Absatz. Dazwischen Glockengeläut. Zwei dunkelhäutige Priester schreiten würdevoll die Kirchentreppe hinauf, gefolgt von einem aufgeregten Trüppchen afrikanischer Pilger. Kameras klicken. Ob die japanischen Touristen mit ihren riesigen Videokameras auch die Krüppel und geistig Behinderten filmen? Die blauen Rikschas machen sich auf den Bildern sicher gut, denkt Ieva und zückt ihre eigene Kamera. Niemand scheint etwas dagegen zu haben. Offensichtlich ist Lourdes kein Ort der Trauer und Verzweiflung. Es gibt keine Pilger, die auf blutigen Knien den langen Weg zum Heiligtum rutschen wie in Fatima. Lourdes hat Event-Charakter. Als Elena nicht hinschaut, kauft auch Ieva eine dieser Madonnen. Lässt sie schnell in ihre Umhängetasche gleiten. Für ihre Tochter Emilija. Eine Puppe für ihre Tochter Emilija.
Sie schließen sich einer kleinen Prozession an, die – Marienlieder singend – zur Grotte pilgert, in der die Jungfrau Maria den Kindern erschienen sein soll. Vor ihnen ein Vater, der seinen kleinen Sohn in einem Karren hinter sich herzieht. Das arme Kerlchen hat einen gepolsterten Helm auf, nuckelt aber zufrieden an seinem Eis. Neben Ieva eine jüngere Frau. Sie schiebt ihre spastische Tochter im Rollstuhl. Singt. Singt das «Ave Maria». Auf Litauisch. Wie liebevoll sie dem Mädchen über die dünnen Haare streicht. Ihr sanft den Speichel vom Mund wischt. Ieva kann die Augen nicht abwenden. Denkt an Emilija. Hätte auch sie ihre kranke Tochter aus Litauen holen, sie auf die Wallfahrt mitnehmen sollen? Wozu? Hofft die Frau neben ihr wirklich auf ein Wunder? Glaubt sie, dass das Wasser aus der Quelle ihr Kind heilen kann? Das ist doch Aberglaube. Finsterstes Mittelalter.
Ieva wird heiß, als die Frau sie ansieht.
«Sie fragen sich jetzt sicher, ob ich glaube, dass meine Tochter gesund wird, wenn ich sie mit dem heiligen Wasser wasche.»
Ieva fühlt sich ertappt. Merkt, dass ihr die Röte ins Gesicht schießt.
«Nein», sagt die Frau. »Das glaube ich nicht. Aber mir hat das Wasser geholfen. Jedes Jahr pilgere ich nach Lourdes und erfahre, dass ich nicht allein bin mit meinem Schicksal.»
«Ich habe auch eine schwerbehinderte Tochter. Zuhause in Vilnius.», hört Ieva sich sagen. Und schweigt beschämt. Das ist doch ihr Problem. Wie kommt sie dazu, fremde Menschen mit ihren Problemen zu belasten? Aber die Frau legt die Hand kurz auf ihren Arm.
«Wissen Sie, hier in Lourdes habe ich gelernt, mein Kind anzunehmen. Ja zu sagen zu seiner Behinderung. Ich weiß, dass Gott mich liebt, obwohl – nein, gerade wegen dieses Kindes. Hier in Lourdes schöpfe ich Kraft für meinen Alltag.»
Ieva stellt eine weiße Kerze vor die Marien-Statue. Während ihre Lippen im Chor der anderen das «Gegrüßest seist du, Maria» murmeln, fragt sie sich, ob auch sie es schaffen wird, ihr Schicksal zu akzeptieren. Ihre Tochter anzunehmen. Ob sie aufhören kann, mit Gott zu hadern?
«Kommen Sie mit zur Lichterprozession heute Abend?», fragt die Frau. Ieva nickt.
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