Im Hospiz

Herzklopfen, das kenne ich, wenn ich unsicher bin oder Angst habe. Auch heute pulsiert das Adrenalin in meinen Adern, bevor ich auf den Klingelknopf drücke.
Hospiz Lilge-Simon Stift steht auf dem Messingschild.
Ursel lebt noch, so viel ist sicher. Sonst hätte man mich benachrichtigt. Aber was erwartet mich?
Der Türöffner surrt, die Glastür gleitet auseinander. Ich fummele die Bänder der FFP2-Maske über die Ohren. Im Eingangsbereich muss ich den Impfpass vorzeigen: viermal geimpft.
»Zimmer 2« sagt die nette Schwester am Tresen. Gehen Sie einfach herein. Frau Melchers schläft wahrscheinlich noch.
Leise drücke die Türklinke leise nach unten. Öffne die Tür einen Spalt und schiebe den Kopf ins Zimmer.
Die Schwester hat recht. Ursel liegt im Bett, das Gesicht eingefallen und grau, die Lider geschlossen. Der Mund steht offen, ein Loch mit dunklen Zahnstümpfen. Ich trete ein, schließe die Tür, schiebe einen Stuhl ans Bett, setze mich und betrachte die Sterbende vor mir. Aus ihrem Mund kommt ein Stöhnen. Sanft berühre ich ihren Arm, streichele vorsichtig über die geschundene, blau angeschwollene Hand mit den vielen Einstichen. Natürlich, im Krankenhaus man hat sie noch an den Tropf gelegt.
Akutes Nierenversagen, hatte vor einer Woche das Blutbild ergeben, das der Hausarzt am frühen Morgen gemacht hatte, nachdem ich ihn angerufen hatte. Er bestand darauf, den Krankenwagen zu rufen. Sprach von Dialyse.
»Doch nicht wirklich«, sagte ich fassungslos. »Ursel will nicht ins Krankenhaus. Sie will keine Behandlung.«
»Das ist unterlassene Hilfeleistung«, sagte der Arzt. »Wir können sie nicht einfach sterben lassen.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Frau Melchers ist 91, sie hat ihr Leben gelebt. Sie will nicht mehr.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht verantworten. Wer sind Sie überhaupt, wenn ich fragen darf. Eine Verwandte?«
»Nein, nur die Nachbarin!«
»Dann können Sie gar nichts entscheiden. Gibt es Angehörige?«
»Ja. Eine Tochter in Australien. Einen Sohn, der zurzeit in Slowenien in Urlaub ist. Ich habe seine Handynummer.«
Ich wählte seine Nummer.
»Ich bleibe bei ihr, Lars«, sagte ich, als ich ihn erreicht und ihm die Situation geschildert hatte. »Sie will nicht ins Krankenhaus.«
»Gib sie mir«, sagte der Sohn. Ich hörte, wie er auf sie einredete.
»Es ist besser für dich und auch für mich«, hörte ich Lars sagen. »Du musst den Krankenwagen rufen.«
»Das tue ich nicht, Lars. Das kann ich nicht verantworten, diese Quälerei im Krankenhaus. Da kommt sie nie mehr raus, das ist dir doch wohl klar. Das hat übrigens auch neulich ihr langjähriger Hausarzt gesagt. «
»Dann rufe ich an«, blaffte der Sohn.
Der Krankenwagen brauchte nur 10 Minuten. Ich machte einem übergewichtigen Pfleger auf, gefolgt von einem jungen, unsicher wirkenden Kollegen.
»Frau Melchers möchte nicht ins Krankenhaus«, sagte ich. »Es gibt eine Patientenverfügung.«
Der Pfleger schob mich zur Seite, ächzte die steilen Stufen hoch, polterte ins Schlafzimmer und herrscht die Kranke an.
»Was habe ich gehört? Sie wollen nicht ins Krankenhaus?«
Ursel schüttelt den Kopf. »Kein Krankenhaus und keine Behandlung«, flüsterte sie.
»So geht das nicht«, sagt der Pfleger. »Ihre Niere ist dabei zu versagen. Sie werden einen schrecklichen, und schmerzhaften Tod erleiden.«
Die Patientin guckte mich verunsichert an. »Stimmt das?«
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Was hat Lars gesagt?«
»Er ist fürs Krankenhaus.«
Resigniert schlosst Ursel die Augen. Weder sie noch ich wussten zu diesem Zeitpunkt, dass das mit dem qualvollen Sterben eine Lüge war. Nierenversagen scheint eher ein gnädiger Tod zu sein.
Das Telefon. Wieder Lars. »Ich sitze im Auto. Ich fahre über Nacht. Bin morgen früh in Bremen.«
»Wo ist die Versicherungskarte?«, fragte der Pfleger. »Die brauchen wir.«
Ich hatte keine Ahnung, ging aber ins Wohnzimmer, um in ihren Akten zu stöbern. Der jüngere Pfleger folgte mir.
»Setzen Sie sich durch. Das ist Wahnsinn, was hier passiert.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben es gehört, was ihr Kollege gesagt hat. Ich habe keinerlei Befugnisse, ich bin keine Verwandte. «
Ein Schrei der Patientin oben. Eine männliche Stimme. »So eine Sauerei!«
Ich renne nach oben. Ursel schreit vor Schmerzen. Der Pfleger hat ihr offensichtlich grob die Infusion aus dem Unterarm gerissen. Die Haut ist mit abgerissen.
»Jetzt brauchen wir nur noch ein Krankenhaus. In Bremen-Nord ist alles voll«, hörte ich den Pfleger sagen. »Wir brauchen eins mit Dialyse-Möglichkeiten.«
Ich begleitete Ursel noch nach unten, sah, wie sie in den wartenden Krankenwagen geschoben wurde. Ich nahm vorsichtig über ihre Hand, murmelte »Keine Angst! Alles in Ordnung« und hasste mich für meine Lüge hoffend, dass ein Arzt im Krankenhaus ein Einsehen haben und sie nicht zu sehr quälen würde.

Und nun sitze ich an Ursels Bett im Hospiz. Der langjährige Hausarzt war einen Tag später aus dem Urlaub zurückgekommen, mischte sich ein und sorgte dafür, dass alle Behandlungen abgebrochen wurden. Dank seiner Intervention gelang es sogar, einen Hospizplatz zu bekommen.
»Wir wollen doch alle, dass Ihre Mutter ruhig und würdig sterben kann, ohne Schmerzen«, sagte er zu Lars.
Im Hospiz hatte der Sohn noch versucht, die Leiterin zu überreden, seine Mutter an den Tropf zu hängen. Auch die weigerte sich. »Wir machen hier keine sinnlosen, lebensverlängernden Maßnahmen«, sagte sie entschieden.
Und nun liegt Ursel seit drei Tagen im Hospiz, hat ein Einzelzimmer, wird von liebevollen Krankenschwestern gehegt und gepflegt. Auch Tochter Renate ist aus Australien gekommen. Ursel hat sich gefreut und sich verblüffend erholt, ist wach, klar im Kopf, redet wieder, lächelt.
Auch Lars hat Hoffnung geschöpft. »Wir sollten vielleicht doch versuchen …«
»Nein, sagt seine Schwester rigoros. »Wir versuchen nichts mehr. Wir lassen sie friedlich gehen. Keine Quälereien mehr.«
Und nun sitze ich an ihrem Bett. Seit gestern hat sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert. Sie schläft nur noch, ihr Atem geht schwer, sie stöhnt. Ab und zu fährt sie hoch, schaut mit angstvoll aufgerissenen Augen um sich. Ich berühre ihre Hand. »Ich bin es! Gesa!«, sage ich. »Renate kommt gleich. Keine Angst. Wir bleiben bei dir.«
Sie nickt, ein kurzes Flattern der Augenlider. Sie sinkt zurück in die Kissen.
Was bleibt noch? Wir warten. Warten auf einen gnädigen Tod. Ein Hinübergleiten ohne Schmerzen. Denn Sterben lernen, das tut man hier. Ruhig bleiben und abwarten, leise mit der Patientin spreche, ihr die Angst nehmen. »Du bist nicht allein!«
So möchte ich auch sterben, wenn es keine Hoffnung mehr gibt. Nicht in die gnadenlose Maschinerie eines Krankenhauses geraten. Es klopft leise. Renate kommt, um mich abzulösen. Lars wird heute Nacht auf der Isomatte im Zimmer seiner Mutter schlafen. Mehr gibt es nicht zu tun. Und es ist gut so.

 

 

 

 


Tags:

 
 
 

Schreibe einen Kommentar