Liebe in Zeiten von Corona

Natürlich hatte Margrit damals ihren Gabriel Marquez gelesen. Bücher zu lesen war das einzige Mittel, aus der engen Gegenwart zu flüchten. »Liebe in Zeiten der Cholera«, ein absolutes Muss in den 80ern. Über 50 Jahre hatte Florentino Ariza auf Fermina Daza gewartet. Als junger Mann hatte er sich in sie verliebt, verliebt in ihr Gesicht, in den Klang ihrer Stimme, in ihr Lächeln. Er hatte ihr Liebesschwüre geschickt, sie mit Blumen vor der Haustür überfallen, alles umsonst. Ein Doktor Juvenal Urbino war die bessere Partie gewesen, nicht nur für die Eltern, auch für Fermina. Natürlich hatte er nicht jungfräulich auf sie gewartet.Er hatte geheiratet, mehrere wohlgeratene Kinder gezeugt. Und dann – mit über 80 trafen sie sich wieder und erfüllten ihre Träume, so beschreibt es der kolumbianische Autor Gabriel García Marquez in seinem Roman »El amor en los tiempos del cólera.«
Auch Margrit hatte ihre Träume. Mädchen brauchen kein Abitur, sagte ihre unverheiratete Mutter, die es wissen musste. Wichtig sei nur, einen anständigen Beruf zu haben, sich ernähren zu können. Und was noch wichtiger sei, unabhängig von den finanziellen Zuwendungen eines Mannes leben zu können. Das hatte ihr die Mutter vorgelebt. Die uneheliche Tochter allein großgezogen. Das Kind einer einzigen Nacht mit diesem gutaussehenden Schiffsbauingenieur, der sich vom Acker machte, als er hörte, seine Zufallsbekanntschaft erwarte ein Kind. Er ließ sich doch nicht erpressen und anbinden. Mutters Stolz war groß. Sie bettelte nicht um Almosen, wurde unterstützt von ihrer Familie.
»Die Deern kriegen wir auch noch groß«, sagte die Großmutter und betreute das Kind an den Werktagen. Margrit wurde älter, versuchte, ihren Vater zu finden. Hoffnungslos! Die Mutter weigerte sich strikt, den Namen dieses »Versagers« preiszugeben. Den fand Margrit viel, viel später. Da war er schon tot. Hatte die ganze Zeit in der Nähe gelebt, ein paar Kilometer von Flensburg entfernt.
Nach der Schule machte Margrit eine Lehre. Als Friseurin.
»Haare lassen sich die Leute immer schneiden «, sagte ihre praktische Mutter. »Und die Frauen wollen Dauerwellen. Wenn du gut bist und fleißig, kannst du dich selbstständig machen. Lass nur die Finger von den Kerlen.«
Aber wie sollte das funktionieren? Hatte doch auch bei der Mutter nicht funktioniert. Margrit war groß und blond und lebenslustig. Ihr dichtes Haar fiel auf die Schultern, das Gesicht war gut geschnitten mit breiten Wangenknochen, die Augen groß und blau.
»Du hast einen Schlafzimmerblick«, sagte die Mutter und schaute die Tochter streng an. »Die Kerle werden Schlange stehen.« Sie wusste offensichtlich, wovon sie sprach. Margrit glich ihr aufs Haar, eine jüngere Ausgabe ihrer selbst.
Margrit verstand erst gar nicht, was die Mutter meinte. Natürlich bemerkte sie, dass die Jungen in ihrer Berufsschulklasse Interesse zeigten. Sie anhimmelten. Das genoss sie. Aber mögen, wirklich mögen tat sie keinen. Die waren ihr alle viel zu jung, diese tollpatschigen Bengels. Sie mochte die Ausbildung, die praktische Arbeit im Friseursalon, sie ging gerne in die Berufsschule, ließ sich von den jungen Männern einladen zu Kaffee und Eis. Auch mal ein Bier.
Bei einem Tanzabend im Ruderclub traf sie Frederik, ein paar Jahre älter als sie. Er war Däne, kam aus Kopenhagen, wo seine Eltern eine gutgehende Bäckerei betrieben. Auch er lernte Bäcker, aber seine deutsche Mutter hatte darauf bestanden, dass er die Ausbildung bei ihrer Schwester in Flensburg machte. Er sah gut aus, groß, wirrer dunkler Haarschopf, blaue, frech blickende Augen, ein Tänzer, der ihr nicht wie ihre Klassenkameraden andauernd auf den Füßen stand, sondern sie herumwirbelte, dass ihr Hören und Sehen verging. Liebe auf den ersten Blick? Auf jeden Fall klebte er den ganzen Abend an ihr. Das gefiel Margrit. Gefiel ihr sehr. Er führte gut, hatte ein gutes Rhythmusgefühl, hielt sie fest umschlungen, flüsterte in ihr Ohr, wie attraktiv sie sei und wie gut sie tanze.. Er spendierte ihr ein Glas Sekt, das sie – an Alkohol nicht gewöhnt – ein bisschen beschwipst machte. Händchenhaltend brachte er sie zum Bus. Eine kurze Umarmung, ein flüchtiger Kuss, mehr nicht. Aber sie hatten ihre Adressen ausgetauscht. Und trafen sich immer öfter. Konnten die Hände nicht voneinander lassen. Margrits erster sexueller Kontakt. Vorsichtig, suchend, beide unerfahren, voller Angst. Bloß kein Kind, hämmerte es in Margrits Kopf. Bloß nicht schwanger werden. Nicht das Leben versauen wie die Mutter. Aber hatte die Mutter ihr Leben versaut? Sie hatte doch sie, Margrit.
Frederik bestand seine Gesellenprüfung, arbeitete noch ein paar Monate in der Bäckerei seiner Tante in Flensburg, wurde aber dann von seinen Eltern nach Kopenhagen zurückbeordert, um in der familieneigenen Bäckerei seiner Eltern mitzuhelfen und sich auf die spätere Übernahme des Betriebs vorzubereiten. Tränen auf beiden Seiten.
»Du kommst nach Kopenhagen“, sagte Frederik. «Natürlich kommst du nach Kopenhagen. Ich liebe dich.«

Sie schrieben sich Briefe, Liebesbeteuerungen ohne Ende. Da es bei Margrit zu Hause kein Telefon gab, verbrachte sie Stunden in Telefonzellen, immer wieder herausgetrieben von ungeduldig an die Scheiben trommelnden Zeitgenossen. Nach sechs Wochen kam die Einladung nach Kopenhagen. Seine Eltern würden sich freuen, sie kennenzulernen. Kampf mit der Chefin um ein verlängertes Wochenende. Die Chefin blieb hart.
»Warum willst du unbedingt nach Kopenhagen?«, fragte die Chefin misstrauisch. Im Nachhinein wusste Margrit nicht mehr, welche Antwort sie sich zusammengefaselt hatte. Die Chefin schaute sie an, glaubte kein Wort.
»Am Dienstagmorgen kommst du pünktlich zur Arbeit! Sonst fliegst du raus.«
Freitags durfte sie früher gehen, um den Zug nach Kopenhagen zu erreichen, am Montagabend müsse Margrit aber zurückfahren. Dienstag war ein normaler Arbeitstag im Friseursalon, da gab es kein Pardon.
Seltsamerweise hatte Margrit mit der Mutter keine Schwierigkeiten. Sie schien an den Wochenendausflug mit der Freundin zu glauben.
»Seid vorsichtig!«, war alles, was sie sagte und blickte ihrer Tochter in die Augen. »Ein Wochenende ist kurz. Die Konsequenzen sind lebenslang.«
»Ich weiß, Mama!«
Frederiks Eltern waren nett, wirklich nett. Sie holten sie in ihrem Volvo vom Bahnhof ab, luden sie zum Abendessen ein. Frederik strahlte. Streichelte immer wieder ihren Arm. Küsste ihre Wange, wenn die Eltern abgelenkt waren. Schlafen tat sie bei der Schwester des Vaters. Eine freundliche Dänin, die die jungen Leute nicht aus den Augen ließ.
Ein großes Besichtigungsprogramm am Samstag und Sonntag: Spaziergang hinaus zur kleinen Meerjungfrau, Amalienborg, am frühen Abend der Vergnügungspark Tivoli, Margrit und Frederik Hand in Hand. Der Vater spendierte Bier und Würstchen. Die Eltern waren unermüdlich beschäftigt, Margrit die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. Wollten sie ihr Kopenhagen schmackhaft machen? Sie in die dänische Hauptstadt locken? Sonntagmorgens Kirchgang, gemeinsames Mittagessen, Nationalmuseum. Am nächsten Tag – der Vater hatte sich freigenommen – Autofahrt an den Strand.
Margrit nahm am Montagabend den Zug nach Flensburg,  sie hatte keine einzige Stunde mit Frederik allein verbracht. Immerhin standen sie ohne seine Eltern auf dem Bahnsteig und küssten sich. Leidenschaftlich.
»Ich schreibe dir«, sagte Frederik und drückte Margrit an sich. »Es tut mir leid!«
»Mir auch«, sagte Margrit.
Ein paar Wochen später dann der Brief. Voller Entschuldigungen. Da sei eine andere Frau. Tochter eines Bäckereibetriebes aus der Nachbarschaft. Er sei traurig, wirklich, aber seine Eltern …, er würde sie nie vergessen, sie könnten ja gute Freunde bleiben, er würde sich melden, blablabla … . An dieser Stelle zerriss Margrit den Brief und weinte. Die Mutter sah ihre verheulten Augen, unterließ jeden Kommentar.
Im Flensburger Ruderclub die Herzensfreundin Gundula, deren Bruder Jens-Peter schon seit längerem um Margrit herumschwänzelte. Gutaussehend, charmant, mehr als ein Trostpflaster für die fehlgeschlagene Liebe. Sie mochte Jens-Peter, mochte ihn immer lieber, sie ruderten auf der Flensburger Förde, beteiligten sich an Wettkämpfen, feierten fröhliche Feste im Wassersport-Verein. Als sie schwanger wurde, bestellten sie das Aufgebot. Der Sohn wurde geboren, ein paar Jahre später die Tochter. Jens-Peter verdiente gut mit seiner vom Vater übernommenen Autowerkstatt, sie bauten ein Haus. Die Kinder wurden größer, Margrit machte einen Schreibmaschinenkurs, lernte kaufmännisches Rechnen, kniete sich immer mehr hinein in die Büroarbeit der expandierenden Werkstatt. Eine gelungene Ehe. Ein gelungenes Leben. Sicherlich, es gab gute und schlechte Zeiten, die Kinder verließen das Haus, der Mann übergab die Firma einem Nachfolger, der Sohn hatte kein Interesse, studierte Medizin. Schöne gemeinsame Reisen, dann wurde Jens-Peter krank, starb nach einigen Monaten an einem Herzinfarkt. Margrit war auf sich allein gestellt, kam gut klar, beaufsichtigte die Kinder ihrer berufstätigen Tochter, hielt den Kontakt zu den alten Freunden. Wurde oft eingeladen.
Und dann kam der Brief aus Kollund Skov, einem Städtchen nahe der dänischen Grenze, das sie gut kannte von den sonntäglichen Radtouren. Der Absender sagte ihr im ersten Augenblick nichts. Ordentlich wie sie war, schlitzte sie den Brief mit einem Messer auf, rückte ihre Brille zurecht, entfaltete den Briefbogen.
»Liebe Margrit« begann er. »Du wirst sicherlich erstaunt sein, von mir zu hören«. Margrits Augen wanderten nach unten und dort sah sie den Namen des Absenders: »Dein Frederik«. Für einen kurzen Moment schnappte sie nach Luft. Ihr Frederik? Der Frederik, der sie so schnöde hatte sitzen lassen? Zu feige, um sich gegen seine Eltern zu wehren. Der sich hatte verkuppeln lassen?
Er habe so sehr gehofft, dass sie noch in Flensburg leben würde. Ihre Adresse habe er über den Ruderclub bekommen, er wisse ja nur ihren Vornamen und ihren alten Mädchennamen. Er sei extra nach Flensburg gefahren und habe im Club nachgefragt.
Und die haben ihm meine Adresse gegeben, überlegte Margrit? Das ging doch gar nicht. Auch wenn Frederik ein ehemaliger Clubkamerad war.
Sie las weiter, erfuhr, dass auch Frederik Rentner sei, seine Frau vor ein paar Jahren verloren habe, und in sein kleines Ferienhaus in Kollund Scov gezogen sei, in der Nähe der Familie seiner Tochter. Er fühle sich dort eigentlich sehr wohl. Eigentlich? Was sollte das denn heißen, dachte Margrit. Sollte sie den Brief gleich zerknüllen und in den Papierkorb werfen? Nein, dafür war sie doch zu neugierig, was dieser alte Frederik ihr zu sagen hatte. Er habe sie nie wirklich vergessen, schrieb er. Nichts gegen seine Frau, sie war ihm eine gute Frau, aber sie, Margrit, sei seine große Liebe gewesen und immer geblieben. Er wolle nur wissen, wie es ihr gehe. Vielleicht könnte sie ihm einmal schreiben. Er würde sich darüber sehr freuen. Und dann dieses »Dein Frederik«. Er ist nicht mein Frederik, sagte Margrit halblaut. Was bildet er sich ein!
Ein paar Tage ließ sie den Brief auf ihrer Anrichte im Wohnzimmer liegen. Sollte sie antworten? Oder besser nicht? Am vierten Abend, nach einem kleinen Glas Himbeerlikör, dass sie sich abends manchmal gönnte, kramte sie ihren alten Pelikanfüller heraus, überprüfte die Patrone, suchte eine Ansichtskarte mit einem Foto der Förde.
»Lieber Frederik!« Nein, das ging gar nicht. Er war nicht ihr lieber Frederik.
»Hej«, schrieb sie. »Hej Frederik! Det gar meget godt. Mange hilsener, Margrit.« Ein bisschen Dänisch konnte sie als Grenzbewohnerin schließlich auch. Mehr wollte sie nicht schreiben. Sie hatte ein Lebenszeichen von sich gegeben, geschrieben, dass es ihr gut ging. Das reichte. Sie hatte auch ihren Stolz. Wenn der meinte, nach so langer Zeit, könne er einfach. Nee!

Aber so leicht ließ Frederik sich nicht abspeisen. Ob sie sich nicht mal treffen könnten, schrieb er. Diesmal auch auf einer Ansichtskarte. Mit Schloss Amalienborg auf der Vorderseite. Und er würde auch gern ihren Mann kennenlernen.
Jetzt wird er unverschämt, dachte Margrit, antwortete aber »Jeg er enke«, was, wie sie mit Hilfe eines Wörterbuches übersetztehieß:  »Ich bin Witwe« hieß. Ohne Unterschrift.
Er ließ sich nicht abschütteln. »Es tut mir leid mit deinem Mann. Wenn du willst, könnte ich dir Dänischunterricht geben«, schlug er vor. »Darf ich kommen? Wir könnten uns treffen. In Flensburg. In der alten Kaffeerösterei im Sonnenhof. Morgen um 15 Uhr? Das Wetter verspricht gut zu werden.«
Der ist aber hartnäckig, murmelte Margrit und ging zum Friseur. Wühlte ihren Kleiderschrank durch auf der Suche nach einem hübschen Kleid. Prüfte im Spiegel ihr Gesicht. Ich bin eine alte Frau, dachte sie und betrachtete kritisch die Falten um Mund und Augen. Es ließ sich nicht leugnen, sie war achtzig, sah aus wie achtzig, doch die blauen Augen blitzten klar und unternehmungslustig. Frederik war ja ein paar Jahre älter als sie. Sie war gespannt, wie er aussah.
Ihr Herz schlug heftig, als sie sich am nächsten Nachmittag dem Café näherte. Ein paar Leute saßen draußen in der Sonne, alle noch eingemummelt in dicke Wintermäntel. Ihr Blick glitt über die Tische. Da hinten an der Wand ein alter Herr, groß, hager, mit dichter weißer Mähne. War das Frederik? Der Mann blickte auf, musterte sie einen Augenblick          nahm einen bunten Frühlingsstrauß vom Tisch, hievte sich ein wenig schwerfällig aus dem blauen Korbstuhl und kam lächelnd auf sie zu.
»Schön, dass du gekommen bist, Margrit«, sagte er. »Ich freue mich so.«
Hatte er tatsächlich Tränen in den Augen? Er geleitete sie galant zu ihrem Sitzplatz.
»Oder möchtest du lieber drinnen sitzen? Ist es dir hier zu kalt?«
Margrit schüttelte den Kopf. »Von hier aus haben wir den besseren Blick über die Förde«, sagte sie. »Guck mal, sie bringen die ersten Boote raus. Das Frühjahrstraining geht los.«
»Meine Bootsfrau«, sagte Frederik und legte seine Hand auf ihre. «Immer noch boots- und wassersüchtig?«
Margrit nickte. Sie zog ihre Hand nicht weg. Und dann war es so, als ob die letzten 60 Jahre nicht stattgefunden hätten. Die alte Vertrautheit war wieder da. Am Nachmittag fuhr sie mit ihm in sein kleines Haus in Kollund Skov.
Dass ein paar Monate später Dänemark und Deutschland die Grenzen dicht machten wegen des Corona-Virus, damit konnten sie nicht rechnen. Sie fanden eine Lösung.
Jeden Nachmittag radeln sie nun mit ihren Ebikes zu dem kleinen Grenzübergang Schusterkate, stellen Kaffee und Kuchen auf der niedrigen Grenzmauer ab, heben ihre Klappstühle vom Rad und verbringen einen Nachmittag zusammen.
Eins wissen sie, eine Trennung, das wird ihnen nicht noch einmal passieren. Sobald die Grenzen auf sind, werden sie zum Standesamt gehen.


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