Pechvogel

Mäxchen war ein nettes Baby, freundlich und still und – zur Freude seiner Mutter – unheimlich verfressen. Das Kerlchen blühte und gedieh.
»Nein, was sieht das Jungchen gesund aus«, sagte die Omi. »So ein nettes dralles Baby!«
Er lächelte alle an, schlief von Anfang an durch und machte nie Probleme, bis, ja bis seine Mutter ihn in der Kita anmeldete. Dort wurde er zum Liebling aller weichherzigen Erzieherinnen, so ein unproblematisches Kind gab es selten, so anhänglich und lieb, aber dann wurde immer deutlicher, dass die Sprachentwicklung hinter der gleichaltriger Jungen zurückblieb. Von den Mädchen ganz zu schweigen, die waren ihm Welten überlegen. Auch motorisch lief er nicht gerade zur Höchstform auf. Männchen malen, die Lieblingsaufgabe der freundlichen Kindergärtnerinnen, bei deren Interpretation sie ihre psychologischen Fähigkeiten schulen wollten, war für den Kleinen eine Tortur. Den Männchen fehlten entweder Arme oder Beine, der Kopf geriet viel zu groß oder zu klein. Und basteln wollte er auch nicht.
»Nicht altersgemäß« entschied der Kinderarzt bei der Routineuntersuchung. »Sie müssen sich mehr mit dem Kind beschäftigen!«, sagte er und blickte die Mutter strafend an. Die machte ein betroffenes Gesicht, zuckte die Schultern, strich dem Kleinen über die blonden Wuschelhaare und sagte: »Mein kleiner Dummerjahn, ich hab dich trotzdem lieb.« Der Kleine lächelte sie an.
Ihn ein Jahr später einzuschulen, war auch kein Problem. »Der Junge braucht mehr Zeit«, sagte der Psychologe bei der Schuleintrittsuntersuchung. »Macht nichts«, sagte die Mutter. »It takes all kinds to make the world.« Der Psychologe schaute sie erstaunt an. Die Mutter konnte Englisch.
Dass der Vater des Jungen langsam ungeduldig wurde, Fortschritte sehen wollte, war solange kein Problem, wie seine Frau ihre schützende Hand über den Jungen hielt. »Hauptsache, er ist glücklich«, sagte sie und blickte versonnen auf das ruhig vor sich hinspielende Kind, das geduldig die Steine seiner Legokiste nach Farben sortierte.
Das Drama fing an, als die Mutter des Jungen bei einem Fahrradunfall ums Leben kam. Der Vater war allein mit dem Jungen, der so gar nicht seinen Vorstellungen entsprach. Er selbst war Handwerker, hatte einen qualifizierten Hauptschulabschluss und arbeitete hart, um einen akzeptablen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Das kleine Häuschen musste abgezahlt werden, der BMW – sein ganzer Stolz – war seinem Gehalt nicht angemessen. Der Junge sollte es einmal besser haben. Doch die Leistungen in der Grundschule gaben wenig Grund zur Hoffnung. Eine weiterführende Schule war nicht drin, trotz der Nachhilfestunden, die zu bezahlen er sich zähneknirschend entschloss.
Die neue Frau an seiner Seite mit ihren zwei cleveren Mädchen, die das Gymnasium besuchten, waren für seinen Jungen auch nicht motivierend, der zog sich immer mehr zurück.
In der Hauptschule geriet er – wen wunderte das – an die falschen Freunde. Jungen, die schlauer waren als er, die ihn aber in ihre Clique aufnahmen, ihm beibrachten zu rauchen, Alkohol zu trinken, sich immer wieder an dem Geldbeutel seines Vaters, seiner Stiefmutter zu vergreifen. Natürlich fiel das auf, es gab schreckliche Donnerwetter, aber mittlerweile war es dem Jungen wichtiger, Mitglied der Clique zu sein als seinen Eltern zu gefallen. Da hatte er längst resigniert, das schaffte er sowieso nicht.
Problematisch wurde sein Verhalten in der Berufsschule. Der Junge war weiterhin nicht aufsässig, eher einsichtig, aber lethargisch. Es war die Clique, die ihn anstachelte, im Kaufhaus Dinge »mitgehen zu lassen«. »Mutprobe«, sagten sie. »Völlig ungefährlich.« Natürlich wurde er erwischt.
«Ja, wenn du dich auch so doof anstellst!«, sagten sie. »Deine Schuld.«
Den Zigarettenautomaten zu knacken, war schon ein schwerwiegenderes Delikt. Dabei knackte er ihn gar nicht, stand nur Schmiere. Als die Polizei kam – ein aufmerksamer Nachbar hatte bei der Wache angerufen – liefen alle weg. Nur er wurde erwischt. Selbstverständlich schoben die anderen die Schuld auf ihn. Ernsthafte Verwarnung vom Jugendrichter. Einige Stunden soziale Arbeit wurden ihm aufgebrummt, er war mittlerweile siebzehn.
Die Situation änderte sich, als er Juli kennenlernte. Sie kam aus einfachen Verhältnissen, ihre Mutter arbeitete bei einer Reinigungsfirma. Juli war klug und ehrgeizig, wollte etwas erreichen in ihrem Leben. Sie verliebte sich in den ruhigen, freundlichen Burschen, kriegte ihn dazu, seine Lehre als KFZ-Mechaniker abzuschließen. Es winkte ein Job bei Mercedes, das Leben schien eine positive Wendung zu nehmen. Als Juli ihn verließ und sich mit einem Jurastudenten zusammentat, brach seine Welt zusammen. Er fing wieder an, Drogen zu nehmen.
Es waren die alten Freunde, die ihn stützten, aufnahmen in ihre Clique und zu kriminellen Aktionen anstachelten.
»Wir machen den Enkeltrick«, sagten sie. »Rufen ein paar Omas an, die haben fast alle Enkel, und dann bitten wir sie um Geld.«
Max war skeptisch. Die harschen Worte des Jugendrichters saßen ihm noch in den Knochen.
»Den Trick kennt doch mittlerweile die letzte Oma.«, sagte er .“Ich habe eine bessere Idee.“
Die Freunde sahen ihn verblüfft an. »Dann schieß mal los!«, sagten sie
Was Max ihnen erklärte, klang plausibel. Sie sollten ausschwärmen und in den sogenannten »besseren« Stadtteilen herausfinden, wo ältere Leute – möglichst allein – in ihren Häusern lebten, den Namen herauskriegen, die Telefonnummer übers Internet feststellen. Das war heutzutage einfacher als vor dem digitalen Siegeszug, da war sich  Max sicher.
Max selbst bewarb sich als Werbeausträger. Klemmte sich einen Stapel der Zeitungen auf den Gepäckträger seines alten Fahrrades, fuhr in Bremen St. Magnus und Lesum die Häuser ab, notierte Namen und Adressen der Besitzer.

Nach einem Monat kannte er sich gut aus in seinem Bezirk, wusste, wer wo wohnt. Er kannte die meisten Mieter und Eigentümer, konnte ihr Alter schätzen, hatte herausgefunden, wer allein in seinem Haus oder in seiner Wohnung lebte.
Sein potentielles Opfer war eine über 80-jährige Frau, die nach dem Tod ihres Mannes versuchte, ohne ihn klarzukommen. Körperlich eingeschränkt, aber durchaus fit im Kopf, lebte sie in der Villa am Park, versorgte sich selbst und war wohlhabend genug, sich eine Zugehfrau, einen Gärtner zu leisten. Sie schob den Gedanken an betreutes Wohnen noch weit von sich fort.

»Guten Morgen, Frau Brinkmann«, sagte Max freundlich, als er die alte Frau am Telefon hatte. «Ich rufe von der Polizeiwache in Lesum an. Wir ermitteln gerade in einem Fall, der sich in Ihrer Straße ereignet hat. Sie wohnen doch in der Waldstraße, nicht wahr Frau Brinkmann? Eine ältere Frau ist vor ein paar Tagen in der Waldstraße in ihrem Haus überfallen worden. Sie liegt noch im Krankenhaus. Sie haben sicher davon gehört,Frau Brinkmann. Nein? Aber Sie haben sicher in der Zeitung gelesen, dass ältere, alleinlebende Frauen zur Zeit öfter Opfer von Wohnungseinbrüchen werden? Frau Brinkmann, glücklicherweise konnten wir einen der Täter ausfindig machen. Er sitzt in Untersuchungshaft. Aber bei der Durchsuchung seiner Wohnung haben wir einen Zettel mit verschiedenen Namen und Adressen gefunden. Alles alleinlebende Damen. Ihr Name war auch darunter. Ja, Frau Brinkmann, Sie haben recht. Schrecklich. Deswegen rufe ich Sie ja auch an, Frau Brinkmann. Wir wollen nur sicher gehen, dass Sie ihre Türen und Fenster verschließen, wenn Sie das Haus verlassen. Auch nachts. Was sagen Sie, Sie haben eine Sicherheitsanlage. Das ist ja prima, Frau Brinkmann. Da kommt niemand rein. Wir patrouillieren auch jetzt öfter in Ihrer Gegend. Leider haben die Täter aber auch Bankdaten erbeutet. Ihre Bank und Ihre Kontonummer ist auch darunter. Ja, tut mir leid, Frau Brinkmann. Der Staatsanwalt wird Sie auch noch anrufen. Die Kriminellen sind heute fit in digitalen Dingen. Da kommen wir kaum hinterher. Bei einer älteren Mitbürgerin in ihrer Gegend alle Konten abgeräumt worden. Stellen Sie sich das vor, Frau Brinkmann. Alle Konten abgeräumt. Bei der Targo-Bank.
Was sagen Sie, Frau Brinkmann. Sie haben keine Konten bei der Targo-Bank. Ach so, bei der Sparkasse in Lesum. Klar, steht ja auch auf dem Zettel. Ich schlage folgendes vor: Wir gehen zusammen zur Sparkasse und transferieren die Gelder auf eine andere Bank. Ich helfe Ihnen,  Frau Brinkmann. Tue ich gerne. Die Polizei – Ihr Freund und Helfer. Wofür sind wir denn sonst da, Frau Brinkmann. Um nette ältere DamenFrauen wie Sie zu beschützen. Was sagen Sie, Frau Brinkmann, woher ich weiß, dass Sie nett sind. Das höre ich doch an Ihrer Stimme, so ruhig und sympathisch. Wir kriegen das schon hin, wir beide. Was halten Sie davon, sich mit mir um 11.30 in der Schalterhalle der Sparkasse zu treffen. Ja, genau, die Sparkasse gegenüber der Lesumer Polizei. Ich komme kurz rüber. Wie Sie mich erkennen können? Ich werde Sie erkennen, ich habe doch Menschenkenntnis. Das gehört zu unserer Ausbildung, Frau Brinkmann. Wir Polizisten erkennen Menschen auf den ersten Blick. Noch Fragen, Frau Brinkmann? Alles klar? Machen Sie sich keine Sorgen. Die Polizei hat alles im Griff, Frau Brinkmann. In einer Stunde in der Sparkasse. Bis gleich, Frau Brinkmann.
Als Max den Hörer auflegte war er nassgeschwitzt, aber euphorisch. Das hatte geklappt. Die Frau hatte nicht nach seinem Namen, nicht nach der Telefonnummer der Polizeiwache gefragt. Er hatte sie ja nicht zu Wort kommen lassen. Astreine Profiarbeit. Was Max nicht wusste, war, dass die Dame zwar alt, aber geistig rege war. Kein Name, keine Telefonnummer, das kam ihr komisch vor. Dann diese ewige Wiederholung ihres Namens, eher eine Macke von Versicherungsagenten oder Autoverkäufern. In Aktenzeichen XY hatte sie erst kürzlich eine Reportage über Trickbetrüger angeschaut, die es besonders auf ältere Frauen abgesehen hatten, deren Konten sie leer räumten. Mit mir nicht, dachte sie, startete ihren PC und suchte die Nummer der Lesumer Polizeiwache heraus.
Der Beamte am anderen Ende der Leitung war sofort hellwach. Er bat Frau Brinkmann um Mithilfe. Ein Polizeibeamter in Zivil würde vor Ort sein, wenn die alte Dame den Mut hätte, zur Sparkasse zu kommen. Man müsst den Mann auf frischer Tat ertappen, nicht nur beim Versuch, Geld zu ergaunern. Sie bräuchten dringend ihre Hilfe.
Max hatte den Coup gut geplant, was er völlig unterschätzt hatte, war die pfiffige alte Dame, eine begeisterte Krimileserin, die darauf brannte, ihr Idol Miss Marple zu imitieren und tatkräftig an der Festnahme eines Gangsters mitzuwirken. Crime-time, Prime-time. Energisch schob Frau Brinkmann ihren Rollator über die Straße und betrat die Sparkasse.
Das war`s dann für Max. Der junge Mann tat der alten Frau fast leid, als ihm die Handfesseln angelegt wurden und man ihn unsanft in ein Polizeiauto schubste. Kopfschüttelnd verließ Frau Brinkmann die Sparkasse, begleitet von dem Zivilbeamten.
»Wie lang wird er eingebuchtet?«, fragte sie. »Er sieht doch so nett aus. Ein so hübscher junger Mann, wie kann der nur …«
»Keine Ahnung, das liegt am Richter«, sagte der Beamte. »Die sind in Bremen meistens recht milde gestimmt. »
»Na hoffentlich«, seufzte die alte Dame. »Sonst ist sein ganzes Leben versaut. Ob ich ihn mal im Gefängnis besuchen darf?«
Der Polizist schaute sie fassungslos an. Aber Frau Brinkmann war schon auf dem Zebrastreifen.
»Halt«, sagte der Beamte und eilte hinter ihr her. »Wir brauchen Sie noch für eine Zeugenaussage. Bitte, kommen Sie mit zur Wache.« Frau Brinkmanns Augen funkelten. Dass das Leben noch so spannend war, hätte sie nie gedacht. Da werden ihre Bridge-Freundinnen aber neidisch sein, wenn sie ihnen heute Nachmittag erzählt, was ihr passiert war. Nur der nette, junge Mann, der ging ihr nicht aus dem Sinn. Ob man dem irgendwie helfen könnte? Es gab doch Besuchszeiten im Gefängnis. Sie würde sich gleich erkundigen.


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