Zugfahrt erster Klasse

Spätestens seit Lars von Triers Film Melancholia weiß man, dass schwer depressive Menschen erst im Angesicht vom Weltuntergang zu großer Form auflaufen, tanzen und singen und lachen. Bei Gesa lag der Fall nicht ganz so dramatisch wie bei Justine, trotzdem fühlte sich ihr Therapeut zunehmend hilflos angesichts ihr hartnäckigen depressiven Verstimmungen und ihrer negativen Weltsicht.
»Für Sie ist das Glas immer halb leer«, sagte er und hatte die Idee, Gesa mit der Deutschen Bahn kreuz und quer durch Deutschland zu schicken. Eine zugegebenermaßen unorthodoxe Maßnahme, deren Kosten die Krankenkasse nicht übernehmen wollte. Er konnte nur hoffen, dass auf der Reise nicht alles glatt lief, aber das war bei der Deutschen Bahn ja auch höchst unwahrscheinlich.
Die erste Enttäuschung: Der IC von Bremen nach Dortmund hielt pünktlich Einfahrt auf Gleis 8. Der Erste-Klasse-Waggon war genau dort angehängt, wie die Schautafel es anzeigte, und ihr reservierter Fensterplatz war nicht besetzt. Missmutig kauerte sich Gesa in ihren Sitz und zog Watzlawicks »Anleitung zum Unglücklichsein« aus der Tasche. Hinter ihr zog ein dicklicher junger Mann andauernd die Nase hoch. Sie reichte ein Taschentuch nach hinten, das erstaunlicherweise angenommen wurde.
Gesa nickte ein und schlief, bis sie kurz nach Osnabrück vom Lautsprecher mit der dröhnenden Frage geweckt wurde, ob jemand von der Landes – oder besser noch – von der Bundespolizei an Bord sei. Mit einem Ruck richtete Gesa sich auf, war hellwach.
»Wahrscheinlich nur so ein Typ ohne Fahrschein, der Rabatz macht«, sagte sie gutgelaunt zu der älteren Frau auf der anderen Seite des Gangs, die mit angstvoll aufgerissenen Augen fragte, ob Terroristen an Bord seien. Gesa schlug vor, den Schaffner zu fragen.
Natürlich kam kein Schaffner, dafür dauerte die Einfahrt nach Münster länger als geplant. Angeblich gab es eine Warteschleife für Züge wie beim Landeanflug am Flughafen. Man saß ja auch wie im Flugzeug. Gern hätte Gesa die Scheibe hinuntergeschoben, um zu schauen, was sich so draußen tat. Ging ja nicht mehr. Wurde jemand in Handschellen abgeführt? Waren viele Polizisten zu sehen? Gesa drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Nichts. Ihre Laune sank wieder. Die Fahrgäste mögen Geduld haben, man werde versuchen, die Zeit wieder aufzuholen, hieß es in der Lautsprecherdurchsage.
Der IC holte die Verzögerung selbstverständlich nicht auf. Gesa blickte auf die Uhr. Der Regionalzug nach Köln würde weg sein. Sie versuchte, auf der DB-App herauszubekommen, wann der nächste Zug nach Köln fuhr, bekam aber keine Verbindung. Haben ICs kein Wlan? Oder funktionierte nur ihr iPhone wieder mal nicht?
In Dortmund schulterte sie ihren Rucksack, schleppte ihre Reisetasche die Treppe hinunter und stellte unten in der Halle fest, dass Gleis 16 neben Gleis 11 lag; also an demselben Bahnsteig, an dem sie angekommen war, nur auf der anderen Seite. Die Logik dieser Anordnung erschloss sich ihr nicht, also schleppte sie die Tasche wieder hinauf.
Oben eine völlig verzerrte Lautsprecherdurchsage. Irgendwas mit Aachen und Regionalzug, dann was mit Hamm. Wo um Himmels willen lag Hamm? Fuhr ihr Zug über Hamm? Nicht über Köln? Musste man heutzutage bei Zugreisen einen Reiseatlas mit sich herumtragen? Sie hörte Worte wie »Gleise« und »gesperrt« und »Verspätung«. Auf der Tafel über ihr wurde gerade in Laufschrift angekündigt, dass ihr Zug – tatsächlich ihr Regionalzug nach Köln – noch gar nicht abgefahren war, sondern im Gegenteil Verspätung hatte. Dreißig Minuten Wartezeit. Von der ursprünglichen Abfahrtszeit oder ab jetzt? Sie wollte sich auf eine der kalten, metallenen Bänke setzen, aber der Schnösel vor ihr war schneller. Kein Benehmen, die jungen Leute heute. Früher … !
Die Menschen standen dicht an dicht auf dem schmalen Bahnsteig. Deswegen hieß es wohl »Menschenauflauf«. Die jüngeren Leute spielten angestrengt auf ihren Smartphones herum, versuchten, die unverständlichen Nachrichten aus den Lautsprechern einzuordnen. Gesa probierte das auch, scheiterte an der Technik, wandte sich hilfesuchend an einen seriös aussehenden Herrn im Business-Outfit, der mit hochrotem Kopf und gelockerter Krawatte auf dem Display herumtippte.
«Der Mehdorn gehört in Ketten gelegt. Am Halsband müsste man ihn über die Schienen ziehen«, schimpfte der Mann und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Er hämmerte auf sein Smartphone ein und hielt es dann dicht vor Gesas Gesicht. »Sehen Sie selbst. Kein Zug kommt durch. Die Gleise sind gesperrt. Menschen auf den Gleisen oder ein verdammter Selbstmörder oder sonst was … !«
Was ist das denn für einer, dachte Gesa und ging ein paar Schritte zurück. Der war ja völlig depressiv, der Arme! Das bisschen Warten, das machte doch nichts. Zu Hause war es doch auch nicht schöner. Deutsche Züge sind doch nie pünktlich, das weiß man doch. Sie lächelte zufrieden, zog die Tageszeitung aus dem Rucksack und vertiefte sich in die Horrormeldungen: Krieg, Überfälle, Messerattacken, Pleiten …
Der Regio kam, ehe sie die Zeitung zu Ende gelesen hatte. Gottseidank, sie fühlte ein dringendes Bedürfnis. Sie stieg ein, warf einen Blick in die Zugtoilette, prallte zurück, nahm dann einfach die Hände hoch und pinkelte halb im Stehen.
Wie langweilig, dachte Gesa, als sie auf der Anzeigetafel im Kölner Hauptbahnhof sah, dass ihr genügend Zeit blieb, um den IC nach Mannheim ohne Hektik zu erreichen. Ihre Stimmung hob sich schlagartig, als sie sah, dass die Türen des gläsernen Fahrstuhls offen standen und zwei junge Männer in blauen Monteuranzügen an ihnen herumwerkelten. Ein wütender Radfahrer in voller Verkleidung plusterte sich auf. Wie er nun das Rad auf den anderen Bahnsteig befördern solle.
»Tragen Sie es doch einfach«, sagte Gesa munter. »So sportlich wie Sie aussehen.«
»Geht doch«, sagte Gesa und suchte im Waggon Erster Klasse nach einem freien Platz. Sie schaute auf die Bahnhofsuhr, als sich der Zug in Bewegung setzte. Pünktlich wie die Deutsche Bahn, sagte sie und musste lachen. Dass an der nächsten Station die Tür im hinteren Teil des Wagens nicht aufging, fand Gesa nur noch lustig. Hysterische Stimmen, Fäuste, die gegen die Türverkleidung schlugen, die jammernde Stimme einer älteren Dame. Ein dunkelhäutiges Paar mit drei kleinen Kindern hatte die Durchsage nicht verstanden und versuchte voller Panik, den offenen Ausstieg zu erreichen, wurde jedoch von einsteigenden Passagieren zurückgedrängt. Gesa schnappte sich das hintere Ende des Zwillingswagens und hievte ihn gemeinsam mit dem jungen Vater hoch. Die Kinder quietschten vor Vergnügen. Ich werde noch Mutter Theresa der Deutschen Bundesbahn, dachte Gesa.
Zwischen Koblenz und Mainz blieb der Zug endgültig stehen.
»Wir bitten alle Passagiere, den Zug zu verlassen. Die Lokomotive ist defekt. Ich wiederhole: Alle Passagiere müssen hier aussteigen. Die Lok ist funktionsunfähig.«
Gesa brach in Gelächter aus. Sie konnte nichts dafür. Die Lachsalven explodierten in ihrem Inneren, kamen wie Blasen aus ihrem Mund. Die Leute blickten sie verunsichert an. Die denken sicher, ich bin verrückt geworden, dachte Gesa. Sehen die eigentlich nicht, wie komisch das alles ist?
Eine überforderte junge Bahnangestellte stand auf dem Bahnsteig, umringt von fuchtelnden Menschen. Sie war offensichtlich den Tränen nahe.
»Ich kann nichts dafür!«, sagte sie. »Ich weiß auch nicht, wie es weitergeht.«
»Sie müssen das wissen,» schrie eine Frau. »Das ist Ihr Job. Ich werde mich beschweren.«
»Ich weiß nichts«, wiederholte die junge Frau. »Es liegen noch keine Informationen vor. Ich habe Dienst ab Koblenz und muss meinen IC auch erreichen. Ich bin in derselben Lage wie Sie.«
Sie presste ihr Smartphone ans Ohr, rief mit flehender Stimme: «Hier muss dringend jemand raufkommen! Was soll ich machen? Die Leute drehen durch!«
Ein Mann hielt ihr Zettel und Stift hin. »Sie bestätigen mir sofort, dass der Zug liegengeblieben ist. Ich will mein Geld zurück.«
»Ja, Geld zurück, Geld zurück!«, rief die Menge. »Eine Sauerei ist das! Wir werden uns zu wehren wissen. Die Bahn verklagen.«
»Kommen Sie«, sagte ein Mann. Gesa drehte sich um. Es war ihr Therapeut.
»Ich bin auf der Suche nach meinem Ich«, sagte er. »Ich habe mir auch eine Zugfahrt verordnet.«
Am späten Abend kamen sie in Mannheim an, nahmen die Straßenbahn nach Heidelberg, weil die S-Bahn ausgefallen war, schlenderten durch die Altstadt, besichtigten die Heiliggeistkirche und beschlossen, Weihnachten zu den festlichen Klängender Orgel zum Altar zu schreiten.
»Eigentlich verdanken wir Herrn Mehdorn unser Glück«, sagte Gesa und küsste ihren Verlobten auf die Wange. »Wir werden ihm eine Einladungskarte schicken.«
Leider hat Herr Mehdorn nie geantwortet.


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