Hau sie doch!
Seit fünfunddreißig Jahren arbeitete Marita in der Erzieherausbildung. Seit fünfunddreißig Jahren unterrichtete sie »Kinderliteratur«. Seit fünfunddreißig Jahren las sie mit den jungen Leuten Bilderbücher, Kinderbücher, Jugendbücher und immer wieder Märchen. »Dornröschen« und »Rumpelstilzchen«, »Frau Holle« und »Hänsel und Gretel«, »Der Wolf und die sieben Geißlein«, »Rotkäppchen und der Wolf«. Märchen, Märchen, Märchen. Ist ja auch wichtig für angehende Erzieher und Erzieherinnen, denn »Kinder brauchen Märchen«, sagt der Psychoanalytiker Bettelheim. Eine geordnete Welt in Schwarz und Weiß, wo das Böse böse und das Gute gut ist. Wo die böse Stiefmutter die Hexe ist und im Feuer verbrennt und die »richtige« Mutter ihr Kind behalten darf. Wo der Wolf der perverse Vater ist, der sich an dem kleinen Mädchen vergehen will undsoweiterundsoweiter.
Marita hatte die Nase gestrichen voll von psychoanalytischen, gesellschaftwissenschaftlichen, theologischen Deutungen. Sie wollte überhaupt keine Märchen mehr lesen, nicht mehr à la Eugen Drewermann psychologisieren, warum Rapunzel ihr Haar hinunterlassen wollte oder warum Brüderchen in ein Reh verwandelt wurde. Aber dann bekam sie die Theater AG aufs Auge gedrückt und als demokratisch geschulte Achtundsechzigerin forderte sie die SchülerInnen auf sich auszusuchen, was sie für die Kinder der umliegenden Tagesstätten aufführen wollten. Zwar machte sie ihnen ein vielfältiges Angebot an guten, modernen Bilder- und Kinderbüchern, aber die Klasse wollte unbedingt Märchen auf die Bühne bringen. Weder »Die wilden Kerle« noch »Grüffelo« fanden Gnade vor den Augen der jungen Männer und Frauen. Marita stöhnte, gab schließlich nach, aber nur unter der Prämisse, dass ein Potpourri verschiedenster Märchen gespielt würde, das zu einer durchgängigen Handlung komponiert und dessen pädagogisches Konzept umgedreht werden sollte.
Und so saßen ein paar Monate später zweihundert Vier- und Fünfjährige gespannt in der Aula und verfolgten mit großem Vergnügen, wie die Räuber auf dem Esel ritten, der Wolf die Mutter der kleinen Geißlein heiratete und die faule Tochter das Gold bekam und den Prinzen dazu. Die jungen Schauspieler liefen auf der Bühne zu großer Form auf, ließen das Hexenhaus wandern, weil die Kinder lautstark einen Zaubertrick verlangten, und sie schafften es auch, die vorwitzigen Jungen in der ersten Reihe wieder auf ihre Plätze zu locken, als die Bonbons von Frau Holles Apfelbaum auf den Boden fielen und die kleinen Monster die Bühne stürmten. Sie waren ja schließlich – fast – ausgebildete Erzieher, unerschrocken angesichts einer Aula voll mit lebhaften, motorisch hoch begabten Kindern.
Und dann kam es doch noch zum Eklat. Es ging ja noch an, dass Rotkäppchen böse war, Oma ermorden und das Testament klauen wollte, wobei der Wolf ihr tatkräftig half und zur Belohnung mit in die Südsee durfte. Doch als Hänsel und Gretel anfingen, die arme, alte Hexe zu ärgern und die die Hexe spielende junge Frau einem spontanen Einfall nachgab und die Kinder »weinend« fragte, was sie tun solle, da johlte die Horde: »Hau sie doch! Hau sie doch!« Das wiederum widersprach vollständig dem pädagogischen Friedenskonzept, das den jungen Leuten eingebläut worden war. Hauen? Körperliche Gewalt? Absolut verboten!
»Das kann ich doch nicht«, rief die verzweifelte Hexe. »Ich kann Hänsel und Gretel doch nicht hauen. Das sind doch Kinder!«
»Hauen«, schrien die lieben Kleinen im Saal. »Feste hauen!«
Tja, dachte Lehrerin Marita und lachte in sich hinein. Wie kommen meine mit – ach so guten – Vorsätzen ausgerüsteten Erzieherinnen wohl aus dem Dilemma heraus? Die kleinen Zuschauer hatten sich in einen Mob verwandelt, der nach Strafe und Gewalt schrie. Immer lauter wurde das Getöse: »Hau sie! Hau sie!«
Die »Schauspieler« auf der Bühne hatten aufgehört zu spielen und blickten hilflos. Erst als Hänsel der Hexe eine lange Nase zeigte und an ihrem Rock zog, fasste sich die junge Frau ein Herz, humpelte hinter Hänsel her, schnappte sich den »bösen Buben«, legte ihn übers Knie und »versohlte« ihm den Hosenboden. Hänsel jaulte entsetzlich und Gretel lief weg.
Der Jubel war unbeschreiblich. Noch im Hinausgehen hörte Marita einen kleinen Knirps zu seinem Kumpel sagen: »Das war geil, wie die Hexe den Hänsel gehauen hat. Leider mit ohne Stock. Schade!«
Lernziel erreicht: Der Böse wurde bestraft, die Welt war wieder in Ordnung!
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