Archive for November 2014

 
 

Häutung

Am Sonntagmorgen ist es der einzige Frühzug in die Stadt. Pauline will ihn auf keinen Fall verpassen. Ab Hauptbahnhof fährt eine Straßenbahn weiter zum Klinikum. Der Wind treibt den Regen schräg über den offenen Bahnsteig. Die braune Wollmütze hat sie tief in die Stirn gezogen, den Mantelkragen hochgeklappt.
Natürlich hatte es Fotos von ihr gegeben, vor zwei Jahren. Wie die Geier hatten die Journalisten auf sie gewartet, draußen auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude. Pauline hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, aber trotzdem war ein Foto von ihr an die Presse gelangt. Ein Familienfoto. Sie und die vier Kinder im Garten: Baby Mia auf ihrem Arm, die Zwillinge Nils und Eike lachend übereinander purzelnd, die siebenjährige Mara an die Mutter geschmiegt. Von Johannes ist nichts zu sehen. Vielleicht war er der Fotograf. Sie sieht glücklich aus, lacht in die Kamera, so wie er es immer haben wollte. Die dunkelblonden Haare fallen ihr ins Gesicht, die dunklen Augen blinzeln in die Sonne, der Mund mit den weichen, ungeschminkten Lippen leicht geöffnet.
Seit zwei Jahren steigt sie einmal die Woche die steilen Stufen zu Frau Dr. Arens Praxis empor. Eine posttraumatische Belastungsstörung hatte die Psychotherapeutin diagnostiziert. Würde Frau Dr. Arens sie weiter behandeln, wenn sie wüsste, wohin sie fährt?
»Sie kommen gut voran«, hat sie neulich gesagt. »Sie sind dabei, Ihre alte Kraft zurückzugewinnen. «
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