Vogelsang
„Haben Sie noch Fragen? Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit.“
Der Pensionär Albrecht Hülshoff, Referent auf der Ordensburg „Vogelsang“, blickte in die Gesichter der Teilnehmer, die sich am Ende der Führung auf der Terrasse vor der Burg versammelt hatten, um noch einen Blick auf den Urftsee zu werfen, der von den aufsteigenden Nebelschwaden nach und nach verschluckt wurde.
Es war ein anstrengender Rundgang gewesen, eine sogenannte „barierefreie Plateau-Führung“, gedacht für ältere Teilnehmer, deren altersbedingte Behinderungen ihnen nicht mehr erlaubten, den Hang-Rundgang zu machen, um sich auch die „Kameradschaftshäuser“ und die Sportstätte anzuschauen. Unter den Referenten riss man sich nicht gerade um diese Führung, die hauptsächlich von besserwisserischen alten Männern gewählt wurde, die den zweiten Weltkrieg als junge Soldaten und miterlebt hatten und darauf brannten, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten. Nur Hülshoff meldete sich immer wieder freiwillig für diese Führungen, ein Umstand, den die jüngeren Referenten merkwürdig fanden, aber nie hinterfragten.
„Können Sie noch einmal sagen, wie lange die Ordensburg für die Schulung des arischen Führernachwuchses genutzt wurde?“ fragte die einzige weibliche Teilnehmerin der Gruppe, eine ältere Dame, die sehr interessiert den Ausführungen des Referenten gelauscht hatte.
Ehe Hülshoff antworten konnte, belehrte sie schon der Rentner neben ihr. „Bis 1939. Mit Kriegsbeginn hat die Wehrmacht „Vogelsang“ übernommen. Die Junker wurden an die Ostfront geschickt, die meisten sind gefallen.“
„Schade um die Männer“, mischte sich ein sehr alter Zuhörer ein, der in einem Rollstuhl an dem Rundgang teilgenommen und bisher geschwiegen hatte. „Das war eine Elite! Junge gesunde Kerle, Patrioten, die zu Parteifunktionären ausgebildet werden sollten. Wenn die mehr Zeit gehabt hätten, die hätten den Krieg erfolgreicher geführt als diese eingebildete Offiziersclique. Die Katastrophe hätte vermieden werden können.“
Die Frau sah den Sprecher ungläubig an und sagt mit spürbarem Sarkasmus in der Stimme. „Wie meinen Sie das? Die hätten das tausendjährige Reich wirklich errichtet? Na dann, Heil Hitler!“
Auch der Referent sah den Alten angewidert an und in seinen Augen flackerte ein gefährlicher Funke auf, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Man tat alles auf „Vogelsang“, um die braunen Horden fernzuhalten, aber man konnte nicht verhindern, dass der eine oder andere Altnazi an einer Führung teilnahm.
„Es ist richtig, dass die Wehrmacht mit Kriegsbeginn die Burg übernommen und Schulungen für Offiziere veranstaltet hat. Aber wirklich interessant ist, was mit dem auf dem Nord-Ost-Hang stehenden Burglazarett passiert ist. Nachdem die Junker abgezogen worden waren, erkämpfte der Burgarzt Dr. Wunsch trotz heftiger Widerstände eine Zulassung des Lazaretts als öffentliches Krankenhaus.“
„Ich dachte, hier sei ein Geburtshaus des ‚Lebensborn‘ errichtet worden“, warf ein Zuhörer ein. Zumindest habe ich das irgendwo gelesen.“
„Alle Indizien sprechen aber dagegen. Es gab zwischen 1939 und 1944 nur sechs Geburten mit dem Vermerk „Vater unbekannt“. Diese Tatsache spricht gegen die Existenz eines Lebensborn-Geburtshauses“
„Klar, mit der Aktion ‚Schenk dem Führer ein Kind‘ musste ein detaillierter Arier – Nachweis erbracht werden ´Vater unbekannt` ging da nicht.“ sagte die Frau und blickte den unbelehrbaren Alten herausfordernd an. Hätte ja einer sein können, der rassisch minderwertig war.“
Der Alte brummelte grimmig und wendete den Kopf ab.
„Ich gehöre übrigens zu den im Burglazarett geborenen Kinder“, warf Hülshoff ruhig ein und alle Augen richten sich auf ihn. Sogar der Alte im Rollstuhl drehte den Kopf und starrte ihn an wie eine Erscheinung. „Und auch mein Vater wurde als ‚unbekannt‘ auf der Geburtsurkunde vermerkt, obwohl es Hinweise gibt, dass er zu den Junkern gehörte, die hier ausgebildet wurden.“
„Ist das der Grund, warum Sie hier ehrenamtlich arbeiten?“ wagte einer aus der Gruppe zu fragen. „Entschuldigen Sie, oder ist das zu persönlich?“
„Nein, nein“, versicherte der Referent. “ Mich haben die Gräueltaten der Nazis mein ganzes Leben verfolgt. Vielleicht kann ich jetzt, als Pensionär, meinen Teil dazu beitragen, zu verhindern, dass sich Geschichte wiederholt und die Menschen braunen Rattenfängern auf den Leim gehen.“
„Wer ist hier wohl gemeint?“, wandte sich die ältere Dame spitz an ihren Nachbarn im Rollstuhl, doch der Alte ignorierte sie.
„Wer war Ihre Mutter?“ Hülshoff blieb ruhig, als ob er die Frage erwartet hätte.
„Eine Küchenhilfe aus Monschau. Meine Mutter hat ihn auch eine Zeitlang verstecken können, aber dann ist er wohl von einem Kameraden verraten worden. Schon am Abend der Festnahme wurde er gehängt. Dass sie schwanger war, hat meiner Mutter erst einmal das Leben gerettet hat. Nach meiner Geburt im Burglazarett wurde auch sie festgenommen und verschwand in den Kellern der Gestapo.“
„Und wie haben Sie überlebt?“ Die Gruppe war wie elektrisiert.
„Nach dem Krieg haben meine Großeltern nach dem Kind geforscht, mich in einem Waisenhaus gefunden und großgezogen. Nun wissen Sie, warum es mich zu der Burg ‚Vogelsang‘ zieht. Die eigene Biographie.“
„Und den Namen ihres Vaters kennen Sie wirklich nicht?“ wollte einer der Teilnehmer wissen.
„Nein, in den Kriegswirren und dem Chaos danach sind viele Unterlagen verschwunden. Es wäre purer Zufall, wenn sich noch ein Nachweis finden würde.“ Er zuckte resigniert die Schultern. „Meine Damen und Herren, unser Rundgang ist beendet. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“
Die Gruppe klatschte und löste sich langsam auf. Nur der Alte fuhr seinen Rollstuhl an die Ostseite der Terrasse und starrte nach unten in Richtung Thingstätte. Einem inneren Impuls folgend ging Hülshoff ihm nach. Er beugte sich zu dem Mann hinunter.
„Soll ich Sie zum Parkplatz bringen lassen?“
Ungeduldig wehrte der Mann ab.
„Er hieß Arthur Meinard“, murmelte er mit hassverzehrter Stimme. „Ein feiger Deserteur. Er wollte sich vor der Front drücken, das Kameradenschwein.“
Der Referent erstarrte. Sollte sein Plan aufgegangen sein, die anstrengenden Führungen mit den alten Frontsoldaten nicht umsonst gewesen sein? War der Täter zum Tatort zurückgekehrt? War endlich der Tag gekommen, von dem er schon als Junge geträumt hatte, der Tag, an dem er nicht länger ein Niemand war und im Namen seines Vaters Vergeltung üben konnte an dem Tod seiner Eltern?
„Sagen Sie das noch mal“, seiner Stimme war ruhig und kalt, nur seine Handknöchel hoben sich weiß ab von den dunklen Griffen des Rollstuhls
„Er hieß Arthur Meinard. Und mir hat er die Frau gestohlen. Marie Hülshoff gehörte mir.“
Es war nur ein kleiner Stoß, und der Rollstuhl rollte wie von selbst den steilen Hang hinunter in Richtung Thingstätte, wurde immer schneller, überschlug sich und schlug dann krachend auf dem Steinplateau auf. Der Schrei des Alten wurde vom Nebel verschluckt.
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