Überfall

Wie schön ist es bei uns, denkt Marlene und räkelt sich auf der Couch, während die im Feuer knisternden Eichenholzsparren eine wohlige Wärme verbreiten. Durch die großen Panoramascheiben sieht sie, dass es angefangen hat zu schneien, große flauschige Flocken fallen aus einem bewölkten Himmel, nur ganz im Osten funkeln ein paar Sterne. Der Garten liegt hell unter einer weißen Decke, die alle Geräusche dämmt. Ein leichter Wind spielt mit den Zweigen der Tannen, wirbelt die helle Last in die Luft. Ob das Vogelfutter noch reicht?
»Hast du die Alarmanlage angeschaltet, Helge?«, fragt sie ihren Mann, der vor dem Fernseher hockt und lautstark das Spiel Werder-Bremen gegen Schalke 04 kommentiert, doch statt einer Antwort winkt er nur ungeduldig mit der Hand, pst, soll das wohl heißen, und sie vertieft sich wieder in ihr Buch. Sie hat sich vorgenommen, ihn nicht andauernd zu kontrollieren, ihre Ängste zu unterdrücken.
In die Sofaecke gekuschelt, eine Decke über ihre Füße gebreitet, lässt sie sich hineingleiten in das dramatische Leben der Romanfiguren. Nicht einmal der laute Ton des Fernsehers stört sie, sie schaut erst auf, als ihr Mann beim Schlusspfiff anfängt zu schimpfen.
»Helge, nun reg dich nicht auf!«, sagt sie freundlich und schiebt ihm den Rotwein hinüber. Lass uns noch ein Glas Wein trinken. Nächstes Mal gewinnt Werder bestimmt.
Tess, die Labrador-Hündin, liegt vor dem Kamin und schnarcht leise vor sich hin. Sie ist ganz schön alt geworden, denkt Marlene. So wie wir. Sie hört schlecht und sieht nicht mehr gut, und der lange Spaziergang im Park bis hinunter zum Fluss hat sie angestrengt. Nun ist sie müde und kaputt, genau wie Frauchen.
»Lass uns bald schlafen gehen, Schatz«, sagt sie. »Morgen müssen wir fit sein für die Kinder. Vielleicht können wir mit ihnen rodeln gehen.«
Das Schlafzimmer befindet sich im Obergeschoss, direkt daneben das helle Bad mit den toskanischen Fliesen. Es ist spät geworden. Während Helge noch ein paar Seiten liest, um einschlafen zu können, hat Marlene sich an seinen Rücken gelöffelt, und schon bald hört er ihre ruhigen, tiefen Atemzüge und legt leise das Buch zur Seite.

Mitten in der Nacht wird Marlene wach. War da ein Geräusch? Sie knipst die Nachttischlampe an. Es hat aufgehört zu schneien, der Wind ist heftiger geworden und die schwarzen Äste der Buchen knarzen im Wind, wie Krakenarme schlagen sie gegen die Hauswand. Da, noch einmal, etwas klirrt in der unteren Etage. Marlenes Puls beginnt zu rasen und sie richtet sich senkrecht im Bett auf, lauscht angestrengt. Wieso schlägt der Hund nicht an? Leise quietschen Holzdielen, sie rüttelt ihren Mann wach.
»Helge, da ist wer! »
Er brummt nur und sie rüttelt heftiger.
»Helge, wach auf!«
Langsam kommt er zu sich. Lauscht.
»Ich hör nichts. Es ist der Wind. Das himmlische Kind«, versucht er Marlene zu beschwichtigen, wälzt sich aber dann stöhnend aus dem Bett, zieht seinen Bademantel über, angelt nach den Filzlatschen, nimmt die Taschenlampe vom Nachtschränkchen, öffnet die Schlafzimmertür.
»Sei bloß vorsichtig«, sagt sie.
Er zuckt die Schultern und beginnt, die Treppe hinabzusteigen, gefolgt von seiner Frau. Von unten kommen ihnen zwei dunkle Gestalten entgegen, Typen wie aus einem Freitagabendkrimi: Kapuzenpullover, schwarze, tief ins Gesicht geschobene Wollmützen, Baseballschläger in der Hand. Die Alarmanlage war wohl doch nicht angestellt, denkt Marlene. Dann sieht sie im Flur Tess mit zertrümmertem Schädel in einer Blutlache liegen.
Beim Schein der Taschenlampe werden sie ins Wohnzimmer gestoßen, auf einen Stuhl gezwungen und festgebunden, die Stricke schneiden ins Handgelenk.
»Nicht schreien!«, droht der Größere, »sonst…«, und er macht eine unmissverständliche Bewegung mit der Hand. »Wo ist der Tresor?«
»Es gibt keinen Tresor«, sagt Marlene und weiß im selben Moment, dass man ihr das nicht glauben wird, aber sie haben in der Tat Schmuck und Wertpapiere im Bankfach. Der Kleinere zögert, setzt ein Messer an die Kehle des alten Mannes.
»Wirklich nicht. Wir haben keinen Tresor.« Sie schluchzt. »Aber wir haben Bargeld in der Küchenschublade, im braunen Portemonnaie.“
Einer der Einbrecher geht in die Küche, kommt mit einer Geldbörse zurück, reißt sie auf und wirft sie angewidert zu Boden. Nur ein paar Scheine, das weiß sie. Sie wollte morgen gleich zur Bank. Meine Güte, was jetzt? Sie hat noch eine teure Perlenkette im Haus und zwei goldene Ohrringe. Die kann sie anbieten.
»Scheiße«, sagt der Große. Sie merkt erst jetzt, dass er lispelt. Wie alt mag er sein, 17, vielleicht 18? Er sieht groß und stark aus, hat sehr blaue Augen und helle Haut, eindeutig kein Ausländer. Der andere wirkt jünger, unsicherer. Seine Augen flackern hektisch, die Pupillen stecknadelgroß. Ein Junkie?
»Lass uns abhauen«, sagt er. »Hier gibt es nichts zu holen.«
Der andere ist stocksauer, stößt einen Fluch aus. Marlene schaut zu ihrem Mann. Er ist leichenblass und keucht. Geht es ihm nicht gut. Sein Herz? Sie fängt an zu schreien. Ein Lappen wird ihr in den Mund gestopft. Tapeband verhindert, dass sie den Knebel wieder ausspucken kann. Helge wirkt völlig apathisch, wehrt sich überhaupt nicht, hängt kraftlos in seinem Stuhl.
Die Einbrecher gehen zur Tür. Der Kleine zögert, kommt zurück. Geht an die Hausbar und schiebt ein paar Flaschen unter seine Kapuzenjacke, rennt zur Tür.

Das Rentnerehepaar wird am nächsten Morgen von seiner Haushaltshilfe gefunden. Die beiden alten Leute sitzen auf ihren Stühlen. Die Frau starr vor Angst und Kälte, der Mann neben ihr ist völlig in sich zusammengesackt. Unnatürlich still. Herzinfarkt, stellt der herbeigerufene Notarzt fest.
Die Täter werden wenig später gefasst und vor Gericht gestellt. Beschaffungskriminalität. Zwei im Ortsteil ansässige Junkies.  Die Alarmanlage war ausgeschaltet, die Kellertür zum Garten nicht gesichert. Größere Wertgegenstände wurden nicht gestohlen. Es habe auch keine Tötungsabsicht vorgelegen, befindet der Richter. Die Angeklagten hätten ja nicht wissen können, dass der alte Mann herzkrank war. Wegen des jugendlichen Alters bekommen die Täter zwei Jahre auf Bewährung, falls sie einem Drogenentzug zustimmen.


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