Über den Dächern von Istanbul

»Da hinten,  ganz am Rand der Terrasse in der Ecke, da ist noch ein Tisch frei. Schnell, ehe er besetzt ist!«

Ich schubse meinen Mann in die angegebene Richtung. Doch bevor wir unser Ziel erreichen, ist ein Pärchen vom Nebentisch aufgestanden, um den Platz zu erobern. Und wieder passiert etwas, das uns in unseren Istanbul-Tagen immer wieder sprachlos macht. Wir treffen auf eine überwältigende Gastfreundlichkeit. Der junge Mann sieht uns kommen, spricht ein paar Worte zu seiner Begleiterin, verbeugt sich höflich und weist mit der Hand auf den Tisch. »For you!« Wir wollen ablehnen, die Situation ist uns peinlich. Aber keine Chance, das Paar hat schon wieder an seinem alten Tisch Platz genommen. Wir bedanken uns. »Cok tesekkür ederim!« Gut, dass wir wenigstens ein paar Brocken Türkisch gelernt haben. Wir können sie gut gebrauchen. Immer wieder. Das junge Paar lächelt uns an.
Wir setzen uns an das schmale Tischchen, bestellen türkischen Kaffee und Wasser, nein, keinen Wein, die Moschee ist zu nah. Alkoholverbot im Umkreis von 200 Metern einer heiligen Stätte. Es ist so hell, dass die Augen tränen. Wir greifen nach unseren Sonnenbrillen. Ich durfte das Innere der Suleymaniye-Moschee hinter uns auf dem Hügel nur mit einem großen, hellblauen Kopftuch betreten, auf das der Wärter energisch deutete, als wir die Schuhe ausgezogen hatten und im Begriff waren, ins Innere der heiligen Hallen zu gehen. Es stand mir wirklich gut, das blaue Tuch, wie das Foto später bewies. Zumindest besser als der Strohhut im letzten Sommer oder die Strickmütze bei eisigem Wind im Januar. Trugen nicht auch Doris Day, Romy Schneider, Marylin Monroe bunte Kopftücher in offenen Cabriolets, seidene, luftige Tücher, die ihre Schönheit noch unterstrichen?
Das Innere der Moschee hatte uns überwältigt mit seinen hellen Kuppeln, den hohen Fenstern und den mit Fayencen ausgeschmückten Gewölben. Viele türkische Touristen waren unterwegs, junge Frauen mit zum Kleid oder zum Mantel passenden kunstvoll geschlungenen Kopftüchern machten Selfies oder ließen sich von der Freundin, dem Freund, aber auch von älteren Familienangehörigen fotografieren, lachend und scherzend. Wunderschön sahen sie aus mit ihren großen, braunen Augen und den vollen Lippen, einer Haut wie Milch und Honig. Und sie wussten, dass sie schön waren, diese Mädchen und sie trugen diese Schönheit selbstbewusst zur Schau, auch oder gerade mit Kopftuch. Kinder rannten herum, lachten, die Eltern palaverten laut und temperamentvoll. Die strenge Feierlichkeit christlicher Dome fehlte ganz.
Uns fällt fast die Tasse aus der Hand, als der plärrende Ruf des Muezzin ertönt. Für unsere Ohren ein langgezogenes Gejaule, verstärkt durch Lautsprecher, die über die Dächer schallen. Erst ein Dröhnen aus der großen Moschee über uns, dann der Aufruf zum Gebet. »Allah ist groß!«, ein Wettstreit ohrenzerfetzender Halbtöne.
»Die meisten Muezzine können gar nicht singen«, sagte uns ein türkischer Freund. Die Behörden seien in ganz schlimmen Fällen dazu übergegangen, Gesangsunterricht zu verordnen, weil das jammernde Geschrei kaum auszuhalten sei, auch nicht für gläubige Muslime. Da lob ich mir die Glocken christlicher Kirchen, die  am frühen Sonntagmorgen allerdings auch nur schwer zu ertragen sind.
Wir versuchen wegzuhören, schauen auf die blauen Wasser des goldenen Horns, sehen die Galaterbrücke, dahinter den Galater-Turm inmitten der sich den Hang hinaufziehenden weißen und beigen Häuser von Beyoglu, zwischen denen wir gestern keuchend emporgestiegen sind. Autos und Busse und immer wieder eine klingelnde Straßenbahn schieben sich über die Brücke. An den Rändern Hunderte von Anglern, ein beliebtes Fotomotiv für jeden Istanbul-Führer. Menschengewimmel auf der Promenade, wo am Kai auf vertäuten, goldverzierten Holzschiffen gegrillte Fischfilets verkauft werden. Feiertagsstimmung.
Ich beuge mich über die Brüstung, zähle unter uns noch ein Dutzend weiterer Terrassen, auf denen dicht an dicht die Menschen an diesem Sonntagnachmittag im Sonnenschein sitzen, mit der Familie, mit Freunden schwätzen und gestikulieren, essen und trinken. Der Kellner bringt einen kleinen Holzkohlengrill an den Nachbartisch. Soll Fleisch gegrillt werden? Nein, er zündet die Kohle an, zaubert dann ein langes Chrom- oder Messingrohr hervor. Eine Klarinette? Will die Nachbarin Musik machen? Ich bin gespannt. Aber wozu der Grill? In ein Glasgefäß wird Wasser gefüllt, die Röhre ins Glasgefäß gesteckt. Vorsichtig nimmt der Kellner mit der Zange glühende Holzkohlenstücke hoch, legt sie in eine kleine Schale, verdeckt sie mit einer silbrigen Folie, sticht Löcher hinein, schraubt sie als Kopf mit der Metallröhre zusammen, steckt einen Schlauch an den bauchigen Behälter am unteren Ende, zieht am Mundstück, weiße Wölkchen steigen auf. Ich kriege die technischen Einzelheiten nicht ganz mit, kapiere aber, hier wird nicht Klarinette gespielt, sondern eine Wasserpfeife vorbereitet. Scheint ein Sonntagsnachmittagsritual zu sein, bei Männern und Frauen gleich beliebt, wie ich auf den Terrassen unter uns gut beobachten kann. Trotzdem gewöhnungsbedürftig. Wieso ziehen der Kellner und der Gast am selben Mundstück? Ich schüttele mich, das ist ja noch ekliger als beim protestantischen Abendmahl mit Dutzenden von fremden Leuten, die die Lippen an denselben  Kelch legen, um den Wein zu trinken.
Wir haben Hunger, bestellen eine Grillplatte mit Gemüse. Ein köstlicher Duft weht uns in die Nase.  Speichel läuft im Mund zusammen. Wir haben Hunger. Aber auch die Möwen haben bemerkt, dass Essen serviert wird, hocken auf dem Gitter, beäugen die Teller mit kalten, unbeweglichen Augen. Ich wedele mit den Händen, versuche, sie wegzuscheuchen. Erfolglos. Im Sturzflug kommt eine Möwe heran, fliegt über den Korb mit kleingeschnittenem türkischen Brot, schnappt sich einen Brocken und schwingt sich wieder in die Luft, verfolgt von einem ganzen Schwarm kreischender Artgenossen. Soll sie doch, die gierige Möwe. Das Brot wollten wir sowieso nicht. Das Fleisch ist so viel leckerer.


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