Darf ich Sie ein Stück begleiten?

Ulrich Maidorfer ist Lehrer für Bio und Sport. Groß, schlank, athletisch, mit kleinem Bauchansatz – altersbedingt, wie er meint. Er ist körperbewusst und ein wenig eitel wie fast alle Sportlehrer, aber bei Schülern und besonders bei den Schülerinnen sehr beliebt. Ein guter Kumpel, wie man so sagt, der es durchaus genießt, von den jungen Leuten gemocht zu werden, immer freundlich und hilfsbereit.
Was ihm aber nun mit knapp über 50 passiert, hätte er sich nie träumen lassen. Kurz vor den Sommerferien – es ist heiß in Bremen – geht er mit seiner 8. Klasse ins Schwimmbad. Same procedure as every year. Eine seiner Schülerinnen wird von ihrem Vater gebracht, der gleichzeitig auch die zwei Jahre ältere Tochter Marie im Wagen hat. »Ist doch in Ordnung, Herr Maidorfer?«, fragt er freundlich. Ulrich kennt den Mann von Elternsprechtagen, findet ihn durchaus sympathisch und stimmt zu, ein Auge auf beide Mädchen zu haben. Und da muss es passiert sein, denn am nächsten Tag nach Unterrichtsende steht Marie vor der Schule, ihr Rad in der Hand, und fragt: «Darf ich Sie ein Stück begleiten?« Ulrich ist verblüfft, murmelt etwas Bejahendes – er ist schließlich das, was man einen netten Kerl nennt, außerdem ist das Mädchen hübsch – und schwingt sich auf sein Rad. Ulrich wohnt mit seiner Frau und den zwei Söhnen ein wenig außerhalb der Stadt auf dem platten Land, aber Marie lässt sich nicht entmutigen, radelt fröhlich plaudernd neben ihm her und erzählt von ihrem Schulalltag. An der Gartenpforte verabschiedet er sich. Das Mädchen strahlt ihn an und er geht kopfschüttelnd ins Haus. Was war das denn für eine Nummer? Er beschließt, seiner Frau nichts von dem Vorfall zu erzählen.
Etwas mulmig wird ihm, als Marie am nächsten Morgen schon um halbacht vor der Pforte steht. »Ich möchte mit Ihnen zur Schule fahren«, sagt sie. Ulrich winkt seiner Frau am Fenster zu. Die wundert sich. In der Tat, sie wundert sich sogar sehr, als das Mädchen auch am nächsten Tag auf ihn wartete.
»Pubertäre Schwärmerei«, sagte Ulrich und lacht. »Wird sich schon legen.«
Legt sich aber nicht. Mindestens einmal pro Tag steht Marie vor der Gartenpforte, klingelt, wenn sie Ulrich morgens oder nach der Schule verpasst hat und behauptet, mit ihm sprechen zu müssen, es sei wichtig.
Er wolle das nicht mehr, sagt Ulrich dem Mädchen schließlich. Ob sie niemanden habe, mit dem sie über ihre Probleme reden könne. Keine Freundin oder so. Auch ihr Vater sei doch nett.
»Der ja«, sagt das Mädchen, aber ihre Mutter sei »total durch den Wind«. Die gehöre in die Klapse. Die Kleine tut ihm leid, er wagt nicht, sie brutal zurückzustoßen, auch nicht, als seine Frau langsam sauer wird.
Als Maries die Mutter schließlich anruft und mit schriller Stimme verlangt, er solle seine dreckigen Pfoten von ihrer Tochter lassen, bekommt er es mit der Angst zu tun und ruft den Vater an. Der ist völlig entsetzt, entschuldigt sich und murmelt was von »Borderline Syndrom«. Mutter und Tochter seien beide völlig »neben der Spur«. Er werde dafür sorgen, dass die Belästigungen aufhören. Sie hören aber nicht auf, oder höchstens kurzfristig während der Sommerferien. Kaum beginnt das neue Schuljahr, steht das Mädchen wieder vor der Tür. Sie habe ihn so schrecklich vermisst.
»Sie braucht Hilfe«, sagt Ulrich zu seiner Frau, die mittlerweile fuchsteufelswild ist und ihm auf den Kopf zusagt, er genieße die Situation und lebe sein Helfersyndrom aus, um sich wichtig zu machen. Sie schlägt vor, mit dem Mädchen einen Therapeuten aufzusuchen, aber Marie weigert sich, therapeutische Hilfe anzunehmen. Sie sei völlig normal, sagt sie, nur Ulrichs Frau »ticke nicht richtig.«
Schließlich geht Ulrich selbst zu einer psychologischen Beratungsstelle. Der Psychologe drängt ihn, die Schulleitung zu informieren. »Aber ich kann doch nicht verantworten, dass die Kleine von der Schule verwiesen wird«, sagt er.
»Wissen Sie, dass Sie ihre Stellung riskieren, wenn Sie so weitermachen? Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
Aber Ulrich ist unbelehrbar. Die Kleine ist ihm mittlerweile ans Herz gewachsen. Sie ist so hilflos und zart, so sehr auf ihn angewiesen. Er ist ihr einziger Halt. Sie hat gedroht sich umzubringen, wenn er sie wegschickt.
Ein Jahr später hat Marie einen Freund, einen Typen aus der Drogenszene, dem sie helfen werde, von den Drogen loszukommen. Ulrichs Frau hat die Koffer gepackt. Sie brauche eine Auszeit, hat sie gesagt und sich in der Bremer Innenstadt eine eigene Wohnung gemietet.


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