Erstes Semester Amerikanistik

Corinna war jung, blond, lebenslustig. Erstes Semester Amerikanistik in Tübingen. Ein Platz im Studentenheim, Glück gehabt. Zur rechten Zeit am rechten Ort. Corinna, die älteste Tochter eines Internisten und einer Lehrerin aus Essen, genoss die Feten im Wohnheim, den neuen Wein in den Tübinger Kneipen, Stocherkahnfahrten auf dem Neckar mit netten Kommilitonen. Ein berauschendes Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, befreit von elterlicher Fürsorge und Kontrolle. Zu viel Alkohol, natürlich.
Vielleicht war das auch der Grund, warum sie sich nach einer ausgelassenen Tanzfete auf die Knutscherei mit dem gutaussehenden Argentinier eingelassen hatte. Nichts Ernstes, natürlich nicht. Er hatte versucht, ihr Tango beizubringen. Und mit wachsendem Alkoholkonsum war sie auch immer lockerer geworden. Das sah schon richtig sexy aus, als sie am Ende des Abends über die Tanzfläche flogen, Corinna – musikalisch und mit gutem Rhythmusgefühl – war wie Wachs in seinen Händen, ließ sich herumwirbeln, nach hinten beugen, so dass ihr langes Haar fast den Boden berührte. Sie wehrte sich ein bisschen, als er sie nach dem letzten Tanz an sich zog und zu küssen versuchte. Lachend machte sie sich los, warf ihm noch einen federleichten Handkuss zu, hakte eine Freundin unter und verschwand leicht taumelnd ins Freie.
Dass Rodrigues schon vor dem Wohnheim stand, als die beiden jungen Frauen dort ankamen, beunruhigte sie nicht sonderlich. Sie gab ihm sogar ihre Smartphonenummer und sie verabredeten sich zum großen Tango-Event für den folgenden Samstagabend. Ein wenig mulmig wurde ihr, dass ihr iPhone klingelte, kaum hatte sie ihr Zimmer betreten.
»Du bist die tollste Frau, die ich je kennengelernt habe«, sagte Rodrigues. »Ich bin ganz heiß auf dich.«
»Ja, ja«, sagte Corinna. »Aber ich bin jetzt müde. Bis nächste Woche!« Und hängte ein. Hoffentlich wurde der Typ nicht lästig.
Wurde er. Drei sms über Nacht. Wie wunderschön sie sei und dass er sie unbedingt wiedersehen wolle. Bis zum nächsten Wochenende könne und wolle er nicht warten. Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Seminar passte er sie ab und versuchte, sie zu umarmen. Corinna fühlte sich bedrängt und lehnte es ab, ihn am Abend zu treffen. Sie müsse eine Hausarbeit schreiben, sagte sie. Keine Zeit. Er schien enttäuscht, trollte sich aber. Minuten später vibrierte ihr Smartphone. Er müsse ihr nur noch sagen, er habe sich unsterblich in sie verliebt.
Wenn Corinna sich anfangs noch geschmeichelt gefühlt hatte, wurde sie nun immer wütender. Sie antwortete nicht mehr auf seine Nachrichten, nahm das Telefon nicht ab, wenn sie seine Nummer sah. Er schickte rote Rosen.

Sie entschied sich, am nächsten Wochenende nicht zum Tangoabend zu gehen und verabredete sich mit einer Freundin. Nachts klopfte er an ihrer Tür. Rodrigues stammelte, er wolle unbedingt mit ihr reden. Sie weigerte sich, ihn hineinzulassen. Er wurde laut.
»Weil ich Ausländer bin«, sagte er. «Du bist ausländerfeindlich. Deshalb willst du mich nicht.
»Nein, nicht diese Masche«, sagte sie und schlug die Tür zu.
Doch er ließ sie nicht in Ruhe. Sie ging zur Heimleitung und Rodrigues bekam Hausverbot, was ihn aber nicht hinderte, sie auf der Straße, vor dem Seminar, in der Mensa abzupassen. Er bat, bettelte, drohte.
»Der ist nicht normal!«, sagte ihre Freundin.«Geh zur Polizei.«
Corinna zögerte, aber nachdem Rodrigues sie eines Abends in eine Ecke gedrängt und wieder versucht hatte, sie zu küssen, bekam sie es mit der Angst zu tun. Der junge Polizeibeamte, dem sie sich anvertraute, war sichtlich überfordert.
»Was hat denn dieser Rodrigues nun wirklich gemacht?«, fragte er. »Man kann einem Mann doch nicht verbieten, sich in eine so hübsche Frau wie Sie zu verlieben.«
Corinna wurde wütend. Wurde sie nun auch noch von dem Polizeibeamten angemacht?
»Nein, aber man sollte ihm verbieten, mich weiter zu belästigen. Ich fühle mich verfolgt.«
Der junge Beamte zuckte die Schultern. Warum ließ sich die heiße Blonde sich auch mit einem Ausländer ein. Sie war doch selbst schuld.
Corinna rief ihren Vater an, der schon am nächsten Morgen nach Tübingen kam, ihr half, die Sachen zu packen,  sie mit nach Hause nahm.

Als Rodrigues zwei Wochen später vor der Tür des elterlichen Hauses stand, um Entschuldigung bettelte und von seiner Wahnsinnsliebe sprach, die ihm nicht erlaube, sie in Ruhe zu lassen, drohte ihm Corinnas Vater mit Prügel, rief aber dann seinen Anwalt an, der alle Hebel in Bewegung setzte, um ein Kontaktverbot zu erreichen. Wird sich Rodrigues daran halten?


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