Lago di Garda

Ich sehe,
wie der weiße Eriba Feeling auf die Wiese rumpelt, gezogen von einem weißen Ford Transit.

Ich sehe ,
wie sich die Fahrertür öffnet, muskulöse Arme einen Rollstuhl auf den Boden stellen, auf den sich ein Mann vom Fahrersitz hinunterfallen lässt. Eine Frau mit rötlichem Pferdeschwanz, ein schlaksiger Teenager und ein kleiner Knirps quellen aus der aufgeschobenen Seitentür. Der Fahrer rollt zur Anhängerkupplung, löst mit geübten Griffen die Verbindung zwischen Zugmaschine und Wohnwagen. Mutter und Sohn drehen die vier Stützen hinunter, um den Wohnwagen zu stabilisieren.

Ich sehe,
wie der große Junge zum See rennt, im Laufen das löchrige T-Shirt über den Kopf zieht, der kleine Junge klebt an seinen Fersen. Juchzend werfen sie sich ins Wasser. Die Pferdeschwanzfrau holt Tische und Stühle aus dem Wohnwagen, während der Mann beginnt, die Fahrräder vom Heckgepäckträger zu heben, anscheinend mühelos.

Ich sehe,
wie Fabian hinübergeht um zu fragen, ob er helfen könne.

Ich sehe,
wie der Mann im Rollstuhl freundlich nickt und Anweisungen gibt, sodass in kurzer Zeit das Vorzelt aufgebaut, der Wohnbereich installiert ist. Schneller, als wir selbst es vor einer Woche geschafft haben.

Ich sehe,
wie sie reden, die Gesichter in die Sonne halten, lachen, am Campingtisch eine Flasche Wein aufmachen und miteinander anstoßen.

»Sie kommen jeden Sommer her«, sagt Fabian, als er zurückkommt.
»Hat er das gesagt?«, frage ich.
»Hat er.«
Ich schaue auf den See, in dem sich der blaue italienische Himmel spiegelt, sehe das Felsmassiv auf der gegenüberliegenden Seite, das im milden Spätnachmittagslicht so gar nicht bedrohlich wirkt, und sage:
»Auch wir sind sicher nicht zum letzten Mal hier.«
Ich schlüpfe in meinen Badeanzug, nehme das Handtuch.
»Sollen wir unsere neuen Nachbarn heute Abend zum Grillen einladen?«
»Nun übertreib mal nicht«, sagt Fabian. »Lass sie erst mal ankommen. Die haben sicher eine anstrengende Fahrt hinter sich.«
Ines und Gabriel kommen aus dem Ruhrgebiet, wie sie am nächsten Abend erzählen. Eine lange Fahrt bis zum Gardasee. Sie haben hinter München einen Zwischenstopp eingelegt, schon wegen des Kleinen. Nachts führe keiner von ihnen gerne.
»Ich habe immer Angst, ich schlafe ein«, sagt Ines. »Und Gabriel will nicht die ganze Zeit allein fahren.«
»Ich habe halt eine Schlafmaus geheiratet«, Gabriel lacht. »Schlafen, das ist das, was meine Frau am besten kann.«
Ines droht ihm mit dem Finger.
»Stimmt doch«, sagt der große Sohn. »Wenn Mama schläft, kriegt sie keiner mehr wach.«
»Nur ich!«, trompetet Hannes. »Ich kriege Mama immer wach.«
»Und nun kommt sicher die Frage … «, sagt Gabriel.
»Nein, kommt nicht«, sage ich schnell.
»Aber ihr würdet schon gern wissen, wieso … «
»Das hat Zeit«, sage ich. »Wir kennen uns doch kaum.«
»Doch, ich kenne euch«, sagt Gabriel. »Nettes Frührentnerpaar, hilfsbereit, kümmert sich um Mann im Rollstuhl … «
»Gabriel!«, sagt Ines und legt eine Hand auf seinen Arm.
»Ich meine das gar nicht böse. Aber tut doch nicht so, als hättet ihr keine Fragen. Die hätte ich an eurer Stelle auch. Nur kümmern müsst ihr euch nicht um mich.»
»Mein Papa ist viel stärker als ihr«, sagt Klein-Hannes. »Mein Papa hat sooo dicke Arme.«
»Ja, klar, hat er. Möchtet ihr noch Kirschen zum Nachtisch? Oder lieber Himbeeren?«
»Ja, die Kirschen und Himbeeren und Blaubeeren sind wirklich toll. Kommt der Bauer mit seinem TukTuk voller Früchte immer noch jeden zweiten Nachmittag?«, fragt Ines.
»Mein Vater hat schon zweimal an den Paralympics teilgenommen«, sagt der große Junge. «Seine Mannschaft hat Silber gewonnen.«
»Also, bringen wir es hinter uns«, sagt Gabriel. »Es war ein Motorradunfall. Vor fast 20 Jahren in den Kanadischen Rockies.«
»Ich war dabei«, sagt Ines. »Auf dem Soziussitz. Meine Beine waren n u r gebrochen.«
»Ines ist bei mir geblieben«, sagt Gabriel.
»Und mein Part ist jetzt zu sagen: Natürlich, denn Gabriel ist der beste Mann der Welt.« Sie lacht: »Das Komische ist nur, ich glaube das wirklich.«
»Na, Kleine, nun übertreib mal nicht«, sagt Gabriel und tätschelt ihre Hand. »Es war ganz schön schwer am Anfang.«
»War es«, sagt Ines. «Und meine Eltern waren strikt dagegen.«
»Aber Papa ist viel stärker als Mama. Auch ohne Beine«, mischt sich Hannes ein, schaut seinen Vater triumphierend an und klettert auf den Rollstuhl.
Das scheint sogar zu stimmen, denn bei der Radtour am nächsten Tag – Gabriel auf seinem Liegerad, Ines auf dem Mountainbike – schafft Gabriel die steile Straße bis zum Pass in weniger als zwei Stunden. Ines braucht eine halbe Stunde länger. Fabian und ich würden nicht im Traum daran denken, das auch nur zu probieren. Auch nicht mit den neuen E-bikes.

Dass sie bei ihm geblieben ist, das wundert ihn immer noch. Auch nach 20 Jahren. Ihre Eltern waren entsetzt gewesen. Er war es schließlich, der ihre einzige Tochter fast umgebracht hätte. Mit dem Motorrad durch Kanada, das war seine Idee. Die Tochter auf dem Soziussitz. Trans-Canada Highway. Was für eine irre Idee war das denn! Lass ihn allein fahren, hatten sie Ines gewarnt. Wenn er sich umbringen will, soll er!

Ines hatte nicht auf ihre Eltern gehört. Warum auch. Sie war gerade 20, nach bestandenem Abitur voller Sehnsucht nach Leben, wild auf Abenteuer. Vernünftig sein, zu Hause bleiben, brav studieren, das konnte sie immer noch. Filmsequenzen jagten durch ihre Träume: Easy Rider, Route 66. Beide Arme um Gabriels Bauch geschlungen, ihr Kopf an seinem Rücken, Wind in den Haaren, bis über beide Ohren verliebt. Gabriel, der Sportsmann, der Typ mit den wilden Haaren und den starken Muskeln, der nicht war wie die anderen, der sich nach dem Examen eine Auszeit nahm, ehe er seine Stelle als Ingenieur antreten wollte. Komm mit, hatte er gesagt und sie geküsst, komm mit mir ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Von Montreal bis Vancouver. Quer durch die Rockies. Komm einfach mit. Und sie war mit ihm über die Highways gerast, mit ihm durch die Kurven geflogen, jauchzend vor Glück und Lebenslust.
In einer Spitzkehre im Banff National Park kam ihnen ein grüner Chevy entgegen, schlingernd und mit überhöhter Geschwindigkeit, der Fahrer völlig zugedröhnt. Auch Gabriel war schnell, hatte in wilder Fahrt die enge Kurve unterschätzt. Krachend knallten sie gegen die stählerne Abgrenzung, rutschten weiter, die Maschine verkeilte sich unter der Leitplanke. Nicht den Steilhang hinunter, war sein letzter Gedanke gewesen, ehe er das Bewusstsein verlor.
Zwei Wochen später wachte er im Krankenhaus auf, an Schläuchen hängend.
»Where is Ines? Where is my girlfriend?«, waren seine ersten Worte.
»She has broken both her legs«, sagte die Schwester. »Her parents have come from Germany.«
Erst da wurde ihm bewusst, dass er seine Beine nicht fühlen konnte. Der Unterkörper umwickelt wie eine Mumie. Aber Beine? Beine? In Panik riss er die Decke weg. Brüllte, hörte nicht auf zu brüllen. Die Schwester gab ihm eine Spritze.
Die Beine seien nicht zu retten gewesen, sagte der Arzt. Sie seien unter der Leitplanke zerquetscht worden. Man hätte alles versucht, aber schließlich hätte man amputieren müssen.
»To save your life.«
»What life?«, hatte er geschrien. » Why didn`t you leave me alone? Why didn`t you let me die?«
Der Arzt zuckte die Schultern.
»Trenn dich von Gabriel«, sagten ihre Eltern. »Willst du dich mit einem behinderten Mann belasten?«
»Er ist nicht behindert«, sagte Ines. »Er hat nur keine Beine.«


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