Lebensabschnitt

Uhr Zeit vergehenWas hupt dieser Idiot so? Bloß weil die Fußgängerampel rot zeigt? War in Gedanken. Kann jedem passieren. Auch dem jungen Schnösel hinter dem Lenkrad. Jetzt zeigt er mir auch noch einen Vogel. Gemach, gemach, junger Mann. Dabei habe ich es gar nicht eilig, nach Hause zu kommen. Eigentlich graust mir davor. Meine Beine sind schwer.
Ich kann mich selbst nicht leiden. Warum bin ich so unzufrieden? Bin gesund. Keine finanziellen Sorgen. Holger liebt mich nach diesen langen Jahren immer noch. Die Kinder gut geraten, tüchtig im Beruf. Gönne ich Holger den Ruhestand nicht? Er hat 30 Jahre hart gearbeitet. An verantwortungsvoller Stelle. Ging jeden Morgen früh aus dem Haus, kam abends immer erschöpfter zurück. Logisch, dass er sich hat frühpensionieren lassen, als die Firma ihm das Angebot machte. Haben wir doch beide so entschieden.
Holger bereut die Entscheidung auch nicht. Er ist gern zu Hause. Er ist nun immer zu Hause. Immer. Ich schließe die Türe auf, und er ruft freudig „Hallo Liebes, schön, dass du da bist!“. Und ich möchte am liebsten die Tür zuschlagen und weglaufen. Nur noch einmal von der Arbeit nach Hause kommen, und das Haus ist leer. Einen Kaffe kochen, ganz allein am Küchentisch sitzen. Ganz unvernünftig eine Zigarette rauchen. Ohne missbilligenden Blick. Sagen tut er nichts. Ich weiß ja selbst, dass Rauchen schädlich ist. Er hat ja so Recht. Er ist Naturwissenschaftler. Er ist klug. Und liebevoll. Und jetzt will er, dass auch ich aufhöre zu arbeiten. Wir wüssten nicht, wie viel gemeinsame Zeit uns noch bliebe. Wir sollten sie genießen.
Wie denn? Vor dem Fernseher? Mit gemeinsamer Gartenarbeit? Und hin und wieder eine Kulturreise? Ich will diese Nähe nicht. Ich kann diese Nähe nicht aushalten. Ob ich ihn bitte, sich ein Ehrenamt zu suchen? Oder einfach nur, dass er für eine Stunde verschwindet, wenn ich nach Hause komme. Einfach weg ist. Er wird mich ratlos ansehen. Verletzt und beunruhigt. Er wird mir übers Haar streichen und fragen, ob meine winterliche Depression nahe. Nicht zynisch, nur besorgt. Ob es mir nicht gut gehe. Und er wird sich auf meine Bitte hin zurückziehen. Traurig und stumm. Und ich werde ein fürchterlich schlechtes Gewissen haben.


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