Ehrenmord
Es war bereits dunkel in der Parkbucht beim Straßenbahndepot in Gröpelingen. Der prasselnde Herbstregen wurde vom Wind gegen die Scheibe gedrückt, so dass große Placken Wasser die Sicht auf die ankommenden Bahnen verwischte. Ahmad hauchte auf seine erstarrten Hände und kroch noch tiefer in seinen Mantel hinein, um sich gegen die Kälte zu schützen. Den Motor laufen zu lassen, Heizung und Scheibenwischer anzuschalten, traute er sich nicht. Er wollte nicht unnötig auf sich aufmerksam machen. Er schaute auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr: kurz nach sieben
Die Straßenbahn der Linie 3 aus der Bremer Innenstadt musste in ein paar Minuten ankommen. Ungeduldig fuhr er mit dem Handrücken über die beschlagene Frontscheibe. Die Lichter der vorbeifahrenden Autos blendeten ihn und er kniff die Augen zusammen. Er wartete. Angespannt.
Wie Ahmad das alles hasste. Seine Eltern, seinen Bruder, sich selbst. Schon ehe er morgens die Augen aufschlug, hasste er die vollgestellte kleine Wohnung, das Klappbett im Wohnzimmer, auf dem er nachts schlief. Er hasste die Geräusche der sich streitenden Geschwister, die klagenden Seufzer seiner in der Küche herumwuselnden Mutter, den Befehlston seines Vaters, der im Fernsehsessel sitzend seinen Tee verlangte und darauf wartete, dass seine Kinder ihm ehrfürchtig die Hände küssten.
Er hatte ja alles so satt. 22 Jahre war er alt. Er war der Abi, der Älteste, aber er wohnte immer noch zu Hause. Konnte er dafür, dass er so klein und zierlich war, dass er nicht wie sein 19jähriger Bruder einen Türsteherjob bei der Disco bekam, der ihm erlaubt hätte, wenigstens nachts der Wohnung fernzubleiben? Aber wenn er ehrlich war, eigentlich hatte er sich vor Gewalt schon immer gefürchtet. Er hatte von klein auf versucht, den Vater zufrieden zu stellen und den Schlägen auszuweichen, vor denen die Mutter ihn auch nicht geschützt hatte, als er noch ein Kind war. Von ihrer Seite war keine Hilfe zu erwarten gewesen.
Und sein Vater war enttäuscht, dass sein ersehnter Erstgeborener so ein Weichling war. „Heulsuse“, “ Mädchen“, wie oft hatte er als kleiner Junge den Spott seiner Onkel und Cousins über sich ergehen lassen müssen. Und es wurde auch nicht besser, als er in die Schule ging. Das Lernen machte ihm anfangs Spaß, er kam gut mit, sprach recht gut Deutsch. Aber als er immer mehr von der Straßenclique gehänselt und als „Streber“ und „Schwuli“ beschimpft wurde, da hatte er versucht, sich anzupassen, hatte nach und nach aufgegeben, seine Hausaufgaben zu machen und für die Klassenarbeiten zu lernen. Auch die Lehrer hatten ihn enttäuscht fallen lassen.
Er hatte sich bemüht, an den Raufereien teilzunehmen, ging mit auf Diebestour in der Fußgängerzone, beschimpfte deutsche Mädchen als „Huren“ und schrie „Nazi“ und „Faschist“, wenn man ihn zur Rede stellte. Aber es hatte ihm keinen richtigen Spaß gemacht.Von früh auf hatte er dem Vater helfen müssen im Gemüseladen und war herumkommandiert und beschimpft worden .Und dann war er von der Schule abgegangen ohne Hauptschulabschluss, ohne Aussicht auf einen qualifizierten Job, ohne die Chance, sich abzunabeln und sein eigenes Leben zu führen.
Schon beim ersten Drogendeal war er erwischt worden. Und der Vater hatte getobt und auf ihn eingeprügelt, als die Polizei gegangen war. Es hatte Schläge gehagelt, bis seine kleine Schwester sich schreiend dazwischengeworfen hatte. Ja, die kleine Gülay, sieben Jahre jünger als er, die liebte er wirklich. Mit ihr hatte er gespielt, als sie klein war, hatte es genossen, wenn sie vertrauensvoll zu ihm gelaufen kam. Aber auch das hatte nur für Spott und Verachtung gesorgt. Sogar die Mutter war empört. Mit kleinen Kindern zu spielen, das war keine Aufgabe für einen Mann. Eine Schwester musste bewacht und kontrolliert werden, dass sie keine Schande über die Familie brachte.
Und deshalb saß er hier im Auto auf diesem dunklen Parkplatz und wartete auf Gülay. In der Moschee hatte man seinem Vater gesagt, seine Tochter treibe sich herum, seine Tochter sei eine Hure. Sie beflecke die Ehre der Familie. Wutschnaubend war der Vater nach Hause gekommen. „Wo ist Gülay?“, hatte er gebrüllt und ausgerechnet ihn, Ahmad, ihren großen Bruder, beauftragt, sie zu suchen, sie zur Rede zu stellen.
Natürlich wusste er, dass sie das Kopftuch abstreifte, wenn sie das Haus verließ. Gülay war eine gute Schülerin, beliebt bei den Klassenkameradinnen. Ihre beste Freundin war Tanja, eine Deutsche, bei der sie oft zu Hause war. Ausrasten würden die Eltern, wenn sie das wüssten. Er hatte sie ein paar Mal gewarnt, aber sie hat nur gelacht, lebenslustig und optimistisch, wie sie war. Und es war eindeutig, dass sie es genoss, von den Jungen angehimmelt zu werden. Ob sie einen Freund hatte, wusste er nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Sie war selbstbewusst und furchtlos, ganz im Gegensatz zu ihm. Und sie entzog sich der Familie immer mehr, das war offensichtlich. Sie brachte Schande über die Familie, denn in der moslemischen Gemeinde redete man über sie. Es wurde getuschelt und gehetzt.
Für Ahmad war es nicht schwer gewesen herauszubekommen, dass Gülay an diesem Nachmittag mit ihrer Clique über den Bremer Freimarkt schlendern wollte: Achterbahn fahren, gebrannte Mandeln essen, Spaß haben wie ihre deutschen Freunde.
Und nun wartete er in der Dunkelheit auf sie. Es gehe um die Ehre seiner Familie, hatte der Vater gesagt und ihm sogar das alte Auto gegeben. „Was soll ich tun?“, hatte er gestottert. Sein Vater hatte ihn nur voller Verachtung angesehen und „deine Pflicht“ gezischt. Die bräunliche Spucke war ihm dabei aus dem Mund gelaufen. Ahmad war losgefahren, weil ein Sohn seinem Vater nicht widerspricht. Weil er Angst vor ihm hatte. Er war ein Feigling. Er war unfähig, seine Schwester zu beschützen. Wie er sie alle hasste. Auch sich selbst für seine Feigheit. Seine rechte Hand drehte am Zündschlüssel. Er würde wegfahren, behaupten, er hätte Gülay nicht getroffen.
Doch da näherte sich eine Straßenbahn, schlingerte um den Wendehals und kam quietschend zum Halten. Gülay sprang als Erste aus der Bahn, lachend, gestikulierend, spannte den Schirm auf, hakte Tanja unter. Einige Jungen folgten, sprachen auf die Mädchen ein. Gülay und Tanja blieben stehen. Die Jugendlichen wechselten ein paar Worte. Ahmad konnte nicht hören, was gesprochen wurde. Er sah nur seine Schwester den Kopf schütteln und mit ihrer Freundin weitergehen, mit dem schräggestellten Schirm gegen den heftigen Wind ankämpfend. Die Jungen blieben zurück, sahen den beiden nach.
„Gülay!“, schrie Ahmad aus dem geöffneten Fenster, als die beiden Mädchen an der Parkbucht vorbeigingen, und blendete die Scheinwerfer auf. Gülay blieb verdutzt stehen, erkannte ihren Bruder, kam ein paar Schritte näher.
„Steig ein!“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich fahre mit Tanja nach Hause. Wir nehmen den Bus.“
„Du steigst sofort ein!“
„Spinnst du?“
Die anderen Jugendlichen kamen interessiert näher.
Sie stieg ein. Ahmad vermied jeden Blickkontakt. Er startete den Motor.
„Hure!“, stieß er hervor, ganz gegen seinen Willen.
Gülay versuchte, die Tür aufzureißen, herauszuspringen. Er hielt sie am Arm fest. Sie wand sich wie eine Schlange, die Tür öffnete sich halb.
Die halbwüchsigen Jungen tanzten um das Auto, schrien, klatschten rhythmisch, feuerten die Kontrahenten an.
Ahmad hielt seine Schwester mit eisernem Griff fest. Sie biss ihm in die Hand. Er schlug ihr ins Gesicht, mit aller Wucht. Ihre Lippe platzte.
„Lass mich in Ruhe!“ Ein Bein hatte sie schon draußen. Er umklammerte ihren Hals, zwang sie zurück auf den Sitz.
„Hure, Hure, Hure!“ Er war außer sich vor Hilflosigkeit und Wut. Mit so viel Gegenwehr hatte er nicht gerechnet.
„Du schwule Sau. Fick dich selber!“ Auch Gülay beherrschte den Jargon der Straße. Der ältere Bruder wurde von seiner kleinen Schwester gedemütigt.
Ahmad dreht durch, zieht ein Messer. Sticht zu. Einmal, zweimal. Immer wieder. Die Gesichter am Fenster erstarren zu Fratzen.
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27. August 2010 at 14:42
Dafür hast du wirklich einen Preis verdient!
Ich bin berührt. Die Geschichte ist absolut stimmig. Bleibt auf dem Boden, keinerlei Übertreibung, kommt so gradlinig daher und erzielt dadurch eine unglaubliche Spannung.
Das Ausmaß der Tragik wird deutlich durch das was nicht gesagt wird.
24. Oktober 2010 at 16:59
Hier möchte ich mich dem Urteil meiner Vorgängerinnen anschließen. Wirklich einfühlsam erzählt. Nur warum wechselst Du zwischendrin die Zeiten? Vielleicht ist es ja auch ein gewolltes Stilmittel. Mich irritiert es etwas.