Der Anruf
Magdalena hatte gerade den Kofferraumdeckel zugeknallt und bewegte sich Einkaufstaschen schleppend Richtung Haustür, als das Telefon anfing zu läuten. Hektisch ließ sie die Tüten auf der Eingangsstufe fallen, suchte in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel, fand ihn nicht, ärgerte sich, schrie „Harald, Telefon!“ und wusste doch ganz genau, dass ihr lieber Mann sicher im Garten hingegeben ein Beet umgrub oder Pflanzen wässerte und sich nicht, aber auch gar nicht für das Klingeln des Telefons interessierte.
Da war der Haustürschlüssel, natürlich nicht in der Handtasche, sondern in der rechten Jackentasche unter dem Einkaufszettel und den Hustenbonbons. Das Telefon hatte aufgehört zu läuten.
Mit ihren 60 Jahren war Magdalena immer noch eine aktive, fixe Frau, die ihr Leben und das ihres Mannes gut im Griff hatte. Harald war ein paar Jahre älter als sie und hatte sich vor zwei Jahren aus seiner Anwaltspraxis zurückgezogen, um sich in Ruhe seinen Hobbies zu widmen, die lange zu kurz gekommen waren. Er malte, hörte Musik und arbeitete mit Begeisterung im Garten. Magdalena hatte anfangs Bedenken gehabt, aber Harald war der zufriedenste Rentner, den man sich vorstellen konnte. Entgegen aller Unkenrufe ihrer erfahrenen Freundinnen hatte er nicht angefangen, den Keller zu fliesen odert die Gewürze in ihrer Küche alphabetisch zu ordnen. Sie machte sich bereits Gedanken, wie sie ihre freie Zeit füllen würde, wenn sie nun am Ende des Schuljahres in Altersteilzeit ging. Reisen als Lebensinhalt, das würde Harald nur bedingt mitmachen.
Er war in letzter Zeit überhaupt sehr häuslich. Wollte auch abends wenig weg. Er sei müde, hatte er immer wieder gesagt und Magdalena hatte sich achselzuckend über ihre Korrekturen gebeugt. Aber im Sommer wollten sie in die USA, den einzigen Sohn besuchen und die zukünftige Schwiegertochter kennenlernen, da würde sie keine Entschuldigung gelten lassen.
Magdalena musste lächeln, als sie auf die Terrasse trat, um Harald auszuschimpfen, weil er nicht ans Telefon gegangen war. Er baute im Garten einen Teich. Mit Hingabe. Er kleidete gerade die Grube mit schwarzer Folie aus, ganz ordentlich, ganz konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Er ist dünner geworden, dachte sie, ist fast so schlank wie früher. Er sieht wirklich noch gut aus mit seinen fast siebzig, so ohne Bauch. Harald sah hoch und sie freute sich über das Strahlen, das über sein Gesicht huschte, als sie auf ihn zuging.
„Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?“
„Was?“ Er sah sie verständnislos an. „Ich habe nichts gehört.“
„Natürlich nicht!“ Magdalena fuhr ihm mit dem Zeigefinger über seine schmutzige Stirn. War es eigentlich normal, so zu schwitzen? Hier draußen schien eine warme Märzsonne, doch der Wind war noch recht kühl. Aber er hatte ja auch schwer gearbeitet. Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig.
Da klingelte es wieder. Er schaute sie fragend an. Sie lachte: „Lass mal!“ Sie hechtete ins Haus.
„Lyander.“
Sie horchte in den Hörer.
„Ja, mein Mann ist da. Einen Moment bitte.“
Sie ging zur Terrassentür. „Harald. Für dich. Praxis Dr. Wagner.“
Sie zeigte aufs Telefon. Er kam widerwillig. Wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab. Nahm den Hörer. Wurde blass.
„Ja, selbstverständlich. Ich verstehe. Ja, ich habe Zeit. Heute Nachmittag um 17 Uhr. Selbstverständlich. Danke.“
„Was ist los, Harald?“ Sie merkte, wie ihr Puls sich beschleunigte und zwang sich, ruhig durchzuatmen.
„Gar nichts, Magda. Nur die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchung.“
„Warum musst du heute Nachmittag zum Gespräch? Was sagt der Arzt? Wie sind die Ergebnisse?“ Ihre Stimme wurde schriller.
Er blieb ruhig, streichelte ihren Nacken, küsste ihren Haaransatz.
„Meine kleine Katastrophen-Magda. Nun komm mal auf den Teppich. Schließlich macht man Vorsorgeuntersuchungen, damit Probleme rechtzeitig erkannt werden.“
„Prostatakrebs? “ Sie war ganz blass
Er verdrehte die Augen und streckte die offenen Handflächen gen Himmel. „Ja, zum Beispiel.“
„Ich komme auf jeden Fall mit heute Nachmittag“, sagte sie und sah zu ihrer Beunruhigung, dass er nicht widersprach.
„Ihr Blutbild ist katastrophal“, sagte der Arzt später, schaute Magdalena an und schob Harald ein Blatt über den Mahagoni-Schreibtisch. Wir müssen dringend noch ein paar Tests machen. Ich schlage vor, Sie gehen sofort ins Krankenhaus. Die Überweisung ist fertig.“
Magdalena fuhr ihn am nächsten Morgen in die Klinik. Sie hatte seine Tasche sorgfältig gepackt, nichts vergessen. Auf dem Weg versuchte sie, Zuversicht auszustrahlen. „Andere haben es auch geschafft.“ Er hörte zu, lächelte, streichelte ihren Arm. Sie kämpfte mit den Tränen.
Den Zuschlag für das Einzelzimmer bezahlte sie gerne. Der Raum war hell und freundlich. Der Operation stimmte er zu, aber die nachfolgende Chemotherapie, die die Ärzte zur Sicherheit anordneten, schlauchte ihn körperlich so sehr, dass er die weitere Behandlung abbrach.
„Die meisten Menschen sterben an den Folgen der Chemo, nicht am Tumor“, behauptete er und Magdalena achtete ihn zu sehr, um ihn umzustimmen. Er wollte niemanden sehen, nur Magdalena sollte kommen, jeden Tag.
Sie nahm die letzten Prüfungen ab, ließ sich für den Rest des Schuljahres beurlauben, saß stundenlang an seinem Bett, las ihm vor, hielt seine Hand. Der Krebs war aggressiv, hatte gestreut, lebensverlängernde Maßnahmen wollte er nicht. Sie sorgte dafür, dass er genügend Morphium bekam. Er starb, als sie für einen Augenblick sein Zimmer verlassen hatte.
Sie hatten noch so viel vor.
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28. August 2010 at 17:27
spannender geht`s nicht, glaubwürdig, bezeugt Lebenserfahrung, realistisch, stimmt nachdenklich
5. September 2010 at 19:57
Ich finde die Geschichte auch spannend, finde aber den Titel überdenkenswert, da er m.E. schon zuviel verrät. Durch den Titel ahnte ich schon, dass da irgend etwas passiert. Ich würde einen anderen Titel suchen.