Exklusiv Wohnen
Geräuschlos gleiten die beiden Glastüren zur Seite und geben den Blick frei auf eine geräumige Empfangshalle mit eleganten Stahlrohrsesseln, Beistelltischen mit makellos geputztem Glas, auf denen kunstvoll arrangierte Spätsommersträuße ihren Duft verströmen. Ein Fußboden mit polierten Ahornfliesen zieht sich durch den ganzen Raum. Gemütliche Sitzecken mit blauen Polstersesseln und tiefen quadratischen Tischen reihen sich entlang der weiß getünchten Wand. Im Seitenflügel mit freiem Blick auf den gepflegten Garten sitzen schweigend einige hochbetagtealte Heimbewohner vor weiß gedeckten Tischen auf rückenfreundlichen Stühlen. Für das Abendessen ist es noch viel zu früh. Besucher betreten die Lobby durch eine gläserne Drehtür, und die Stille des Raums legt sich auf die Eintretenden und nimmt ihnen die Luft zum Atmen. Leise und bemüht, auf dem Holzboden kein Geräusch zu machen, nähert sich Johanna dem Empfangstresen. Sie wird nach ihrem Begehren gefragt und eine gepflegte Hand weist auf eine weiße Sitzgruppe ein paar Meter entfernt.
Sie sieht den gebeugten Rücken, das schüttere, wirr gekämmte Haar am Hinterkopf, kommt leise näher und ist überrascht, als sich die dünne, hinfällige Person umdreht und freudig ihren Namen ruft. „Johanna!“
Johanna hat eigentlich nicht damit gerechnet, dass sie erkannt und sogar mit ihrem Namen angeredet wird. Ihr Herzschlag wird ruhiger. Sie tritt näher, zaubert den Blumenstrauß hinter ihrem Rücken hervor, umarmt die kleine, Gestalt, deren Augen-Make-up verschmiert, deren Lippen übertrieben rot geschminkt sind.
»Du«, sagt die Gestalt, die einmal ihre hochverehrte Dozentin war, der sie so viel zu verdanken hat. »Das wollte ich nicht.«
»Was wolltest du nicht?«
»Dass du kommst.«
»Warum nicht?«
»Das ist mir peinlich. Mich hier so zu sehen.«
»Das muss dir nicht peinlich sein.«
Johanna zieht ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Buch aus ihrem großen Lederbeutel.
»Und das ist für dich, Mia. Mein erstes Buch. Vom Verlag angenommen. Auch wenn du Krimis nicht magst. Aber schließlich habe ich das Schreiben von dir gelernt.«
Mia strahlt. Winkt aber bescheiden ab.
»Doch«, sagt Johanna. »Ohne dich würde ich heute nicht schreiben. Von dir haben wir alle viel gelernt.«
Wieder ein Lächeln über dem Gesicht der alten Frau. »Wirklich?«
»Ja, wirklich!«
»Was machen die andern?« Sie weiß noch alle Namen der Kursteilnehmer von damals.
Johanna ist verblüfft. Und das soll Demenz sein? Bei dem Gedächtnis? Sie fragt nach Tochter und Enkelkindern, bekommt detailliert Auskunft. Was macht Mia hier? Die ist doch nicht dement!
Plötzlich Tränen. »Würdest du Friedhelm anrufen, bitte! Ich habe in seit gestern nicht mehr gesehen. Er ist verschwunden, einfach verschwunden. Ohne mir etwas zu sagen.«
»War er heute Mittag nicht da?«
»Nein. Und gestern auch nicht. Ich mache mir solche Sorgen.«
Leises Scluchzen.J ohanna nimmt die weinende Frau in den Arm.
»Komm, wir rufen ihn an.«
»Ich habe seine Handy-Nummer vergessen.«
»Ich habe eure Festnetznummer. Handy-Nummern kann ich mir auch nicht merken.«
Es klingelt und klingelt am anderen Ende der Leitung. Niemand nimmt ab.
»Hast du Friedhelms Nummer in deinem iPhone gespeichert?«
Die alte Frau nickt, erhebt sich schwerfällig, behauptet, ohne Rollator gehen zu können. Langsam wanderbewegen sie sich zum Fahrstuhl.
»Da komm ich nicht rein«, sagt Mia. »Bei mir geht die Tür nie auf. Keiner erklärt mir, wie das geht.«
Johanna stutzt, zeigt, auf welchen Knopf Mia drücken muss, um den Fahrstuhl zu holen. Die Türen öffnen sich. Johanna lässt die alte Frau auf die Nummer der Etage drücken, auf der ihr Zimmer liegt. Wider Erwarten klappt es. Der Fahrstuhl hält in der zweiten Etage. Mia schaut zufrieden. Die Tür zum Zimmer steht weit auf. Ein schönes, großes Zimmer mit Fenstern bis zum Boden. Mia beginnt, das Smartphone zu suchen.. In der Handtasche, im Schrank, in der Nachttischschublade.
»Das Handy hat er sicher mitgenommen«, sagt die Frau.
»Warum sollte er das tun?«
»Damit ich ihn nicht anrufe.«
Sie weint wieder. »Ich mache mir doch solche Sorgen. Meine ewige Angst bringt mich noch um.«
Johannas ruhige Antwort: »Wenn etwas passiert wäre, stünde die Polizei vor der Tür. Oder deine Tochter käme.«
»Ja, meine Tochter, die muss helfen. Würdest du sie bitte anrufen!«
»Kennst du ihre Nummer?«
Sie gibt Johanna die Nummer ihrer Tochter, kennt sie erstaunlicherweise auswendig. Aber auch die Tochter meldet sich nicht. Langsam wird auch Johanna nervös. Hatte Friedhelm wieder einen Herzinfarkt? Liegt er hilflos zu Hause? Hatte er mit dem Wagen einen Unfall ?
»Deine Tochter ist bestimmt einkaufen«, sagt Johanna.
»Nicht um diese Zeit? Es ist fast 6 Uhr. Gleich gibt es Abendessen«, behauptet Mia.
»Lass uns in den Speisesaal gehen«, sagt Anna. »Wir versuchen es später noch mal mit dem Telefonieren.«
Die Frau weint. Still rinnen die Tränen über das zerfurchte Gesicht. Tröstend legt Johanna ihren Arm um die dünnen Schultern der alten Frau. Wo ist Friedhelm nur? Er ist doch sonst immer so lieb und hilfsbereit. Der lässt doch seine Frau nicht allein.
Johanna begleitet Mia zum Abendbrottisch, verabschiedet sich, verspricht Mann und Tochter anzurufen. Die Frau weint immer noch leise vor sich hin.
Im Café nebenan wählt sie noch einmal die Nummer der Tochter. Die meldet sich. Rastet aus.
»Meine Mutter soll meinen Vater in Ruhe lassen, sonst bricht der auch noch zusammen. Meine Mutter hatte heute Besuch von einer Nachbarin, konnte Papa da nicht mal wegbleiben? Spazieren gehen? Golf spielen? Einen Freund treffen? Das hält doch keiner aus.«
Johanna bietet an, noch einmal hineinzugehen, um Mia zu sagen, ihr Mann käme morgen. Zum Mittagessen. Ganz bestimmt.
Sie betritt das Seniorenheim. Am Tisch sitzt Mia. Neben ihr Friedhelm.
Mia schimpft. »Er ist einfach weggeblieben. Hat mir nichts gesagt. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
Der Mann schaut hilflos, zuckt mit den Schultern. Er habe einen dringenden Arzttermin gehabt, so kurz nach dem Herzinfarkt.
»Schau doch«, versucht Mia die aufgeregte Frau zu beruhigen, »du hast einen lieben Mann. Er tut alles für dich. Alles.«
»Nein«, schreit die Frau. »Er treibt sich rum. Mit anderen Frauen. Ich will ihn nicht mehr sehen.«
Friedhelm nimmt ihre Hand und versucht, sie zu streicheln.
»Geh weg«, schreit sie. »Hau ab! Ich will dich nie mehr sehen!«
Mia starb ein paar Monate später zu Hause, betreut von ihremMann, der sie bis hzum Schluss liebevoll pflegte und umsorgte.