Carlotta

image006Mit einem großen Satz sprang Carlotta in den VW-Bus, der mit offener Schiebetür auf dem Hof geparkt hatte. Seit Wochen hatte sie beobachtet, dass Leute angefahren kamen, sich die Hunde im Zwinger anschauten, einen kleinen, niedlichen Mischling aussuchten, ihn ins Auto trugen und davonfuhren.
Carlotta war nicht klein und niedlich, sondern groß und weiß und zottelig. Sie war ein italienischer Maremmano-Mischling, eine Herdenschutzhündin mit einem Bärenkopf und einer dicken, weichen Halskrause. Aber auch sie wollte nicht länger im Käfig bleiben. Die kleinen Kläffer, die um sie herumwieselten, durch ihre Beine flitzten und versuchten, ihr das Futter zu klauen, gingen ihr auf die Nerven.
«Raus hier, meine Schöne «, sagte der Besitzer des VW-Busses, als er in den Wagen guckte. Er lächelte freundlich, wollte aber zum Halsband greifen, um sie vom Sitz zu ziehen. Carlotta zog die schwarzen Lefzen zurück, zeigt ihre Zähne und gab ein leises Knurren von sich. Nicht zu laut, natürlich, sie wollte den Mann ja nicht gleich verschrecken. Er lachte sie aus. «Mädchen», sagte er.»Nun ist aber gut. Raus aus meinem Bully.»
Carlotta legte stur den riesigen Kopf auf die Pfoten und schloss die Augen. Wenn sie niemanden sah, wurde sie auch von niemandem gesehen.
«Gibt es Probleme?» Die Verwalterin der kleinen Streuner-Notstation war hinzugekommen. Sie schaute in den Bus «Da ist ja unsere Carlotta.» Sie streckte die Hand aus. «Komm, Carlotta!»
Carlotta jaulte und schob sich rückwärts an das andere Ende des Rücksitzes.
«Sie will bei Ihnen bleiben», sagte sie zu dem Mann. «Wäre das nicht ein Hund für Sie?
Der Mann kräuselte die Stirn. Carlotta hatte sofort bemerkt, dass sie ihm gefiel. Sie schaute ihn mit ihren braunen feuchten Augen bettelnd an und schlug heftig mit dem Schwanz. Was will denn so ein großer Mann mit einem kleinen Kläffer, dachte sie. Sogar das Auto ist bestens für mich geeignet.
«Diese Hündin ist sehr groß. Meine Frau will einen kleineren Hund. Höchstens kniehoch», hörte Carlotta den Mann zu der Verwalterin sagen. «Wächst sie denn noch?»
«Glaub ich kaum», flunkerte die Frau. «Sie ist kein echter Maremmano, nur eine Mischlingshündin. Die wird nicht so groß.»
Der Mann schaute zweifelnd auf den Hund in seinem Wagen und Carlotta versuchte, sich ganz klein zusammenzurollen und niedlich auszusehen.
«Carlotta ist ein Herden-Schutzhund und wurde in Pompeji eingefangen. Etwa ein Jahr alt. Geimpft, entwurmt, gechipt, gutmütig und kinderlieb», pries die Frau die Hündin an.
Carlotta versuchte, ihr allerliebstes Babygesicht aufzusetzen. Der Mann lachte wieder:
«Sie tut so, als ob sie uns versteht», sagte er. «Aber meine Frau wird schimpfen. Unser Haus ist nicht so groß, wissen Sie. Und wir haben drei Kinder.»
Nun sag schon, dass ich perfekt auf die Kinder aufpasse, betete Carlotta.
«Sie wird perfekt auf Ihre Kinder aufpassen», sagte die Frau.
Na bitte, geht doch, dachte Carlotta.
«O.k., ich nehme sie mit. Aber nur zur Probe. Ich kann das nicht allein entscheiden», sagte der Mann.
«Mama Mia», dachte Carlotta.« So ein Weichei»
«Andiamo», sagte der Mann, schob mit einem lauten Knall die Schiebetür zu und startete den Bully.
«Italienisch kann er auch», freute sich Carlotta.

Dass die Kinder begeistert waren, als Christof mit ihr nach Hause kam, war Carlotta gewohnt. Auch Baby Hanna streckte immer wieder die Patschhändchen nach dem großen weißen Bärenkopf aus und versuchte, an Carlottas Ohren zu ziehen.
Ihre Mutter Sophie allerdings war ein anderes Kaliber. Die war stocksauer.
«Um Gottes willen, Christof», sagte sie. «Was bringst du da für einen Hund. Unser Haus ist doch viel zu eng für so ein riesiges Vieh. Wie groß wird der Kerl denn noch?»
Kerl, dachte Carlotta. Ist die jetzt auch noch blind?
«Eine Kerlin», sagte Christof. Es ist eine Sie. Und sie wird nicht viel größer.»
Das war gelogen, das wussten beide, die Hündin und der Mann, und er fügte zur Sicherheit hinzu. «Hat man mir zumindest gesagt.»
Sophie betrachtete Carlotta skeptisch. Die spürte die Spannung. Sie setzte sich aufrecht hin, legte den Kopf schief, schielte, was das Zeug hielt, und hob bittend eine Pfote.
«Es war ausgemacht, einen kleineren Hund zu kaufen», sagte Sophie.
«Nur ein paar Tage», sagte Christof. Zur Pflege. Bis die Organisation eine andere Familie gefunden hat.»
«Bitte, Mama, bitte», sagte der größere Junge.
«Guck mal, die versteht dich. Jetzt grinst sie», sagte Sophie erstaunt und wies auf Carlottas offenes Maul und ihre schräg heraushängende Zunge. Sogar ihr heftig wedelnder Schwanz schien zu lächeln.
Aus Tagen wurden Wochen. Die Kinder liebten sie. Sophie allerdings blieb skeptisch, das spürte Carlotta. Sie nahm den Kopf eilig vom Esstisch, wenn Sophie sie ärgerlich anschaute und versuchte, nicht immer wieder die Kaffeetassen mit dem Schwanz vom Couchtisch zu fegen. Aber dass Carlotta eine perfekte Babysitterin war, das konnte auch Sophie nicht leugnen.
Schlief Hanna im Garten oder wurde kurz vor einem Geschäft abgestellt, bewachte Carlotta den Kinderwagen, und wehe, eine fremde Person wagte es, zu nahe an den Wagen heranzugehen. Dann zog sie die Lefzen zurück und knurrte bedrohlich.
Und dann – an einem heißen Samstagnachmittag – passierte etwas, das auch Sophies Haltung gegenüber Carlotta vollständig veränderte. Es war Besuch gekommen. Die Erwachsenen tranken Kaffee. Die Jungen tobten im Garten herum. Carlotta hatte sich in den Schatten des Hausflurs zurückgezogen und genoss die Kühle der Steinfliesen. Heute hatte sie wirklich keine Lust, irgendwelchen Bällen nachzujagen. Baby Hanna lag auf eine Decke unter dem Apfelbaum und schlief fest. Dachte man zumindest.
Was Carlotta aber sah, als sie müde ein halbes Auge öffnete, ließ ihre Halskrause vor Schreck senkrecht abstehen. Mit einem tiefen warnenden Bellen sprang sie auf. Wie ein Geschoss schnellte sie aus dem Flur in den Vorgarten, sprang in einem hohen Satz über die Eingangspforte, die aus unerklärlichen Gründen nur angelehnt war, und jagte auf die Straße.
«Halt», wollte Sophie schreien, aber dann sah sie, dass die kleine Hanna versuchte, über die Straße zu krabbeln. Zwischen den parkenden Autos war sie schon durchgewitscht, und nun robbte sie schnurstracks auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu, den kleinen Popo mit der Windelhose hoch in der Luft. Sophie erstarrte, als sich von rechts ein roter BMW näherte. Doch da war Carlotta schon auf der Straße, schnappte nach Hannas Windel, hob das Baby hoch und versuchte mit langen Sätzen, die andere Straßenseite zu erreichen. Das Auto bremste scharf, konnte aber nicht verhindern, dass es mit dem rechten Kotflügel Carlottas Hinterläufe streifte. Der Schmerz fuhr der Hündin bis ins Gehirn. Sie jaulte auf, ließ aber das Kind nicht fallen, sondern hinkte auf den gegenüberliegenden Bordstein, öffnete ihr großes Maul und legte das Baby vorsichtig ab. Christof und Sophie hetzten über die Straße.
«Um Gottes willen», sagte der Fahrer. Er war ganz weiß im Gesicht. «Das Kind habe  ich nicht gesehen. Nur einen weißen Blitz, der über die Straße sauste.».
Das war ich, der weiße Blitz, dachte Carlotta stolz. Und sogar Sophie geht jetzt vor mir in die Knie und schaut nach meiner Wunde. Ein bisschen Blut würde sich jetzt gut machen. Sie drehte den Kopf, wimmerte dramatisch und leckte an ihrem Bein.
«Danke, meine Carlotta», sagte Sophie und streichelte Carlottas Kopf.«Brave Carlotta.» Ihre Augen waren feucht. »Ohne dich wäre Hanna jetzt tot.».
Siehst du, dachte Carlotta. Ich bin eben eine gute Beschützerin. Und sie wedelte vorsichtig mit dem Schwanz und leckte Sophies Hand als Zeichen der Versöhnung.

In der Tierklinik wurde Carlottas Bein versorgt. Auch wenn Carlotta in Zukunft den rechten Hinterlauf ein wenig nachzog, blieb sie doch die schönste und größte Hündin weit und breit. Und niemand redete mehr davon, sie wieder abzugeben. Auch Sophie nicht.


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One Response to “Carlotta”

  1. Gravatar of Ina Schlicht Ina Schlicht
    5. Oktober 2013 at 22:49

    Carlottas „Geschichte“ ist ja ganz rührend und zum Glück auch so, dass man sich oft ein Grinsen nicht verkneifen kann, aber insgesamt ist mir der „Höhepunkt“ zu klischeehaft und vorhersehbar. Etwas weniger „Dramatik“ hätte besser zu der Geschichte gepasst. Stilistisch ist sie sehr gelungen.

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