It is Bear Country

 

10. April 2017
Gestern bin ich mit meinem Professor nach Oslo geflogen. Von Bremen aus mit Ryanair. Logo, auch die Uni muss sparen. Aber das Angebot des Alfred-Wegener-Instituts, gemeinsam auf Spitzbergen zu forschen, konnte mein Prof sich nicht entgehen lassen. Und ich habe Luftsprünge gemacht, als er mich fragte, ob ich nicht mitkommen wolle zu der internationalen Forschungsstation nach Ny-Alesund. Wäre sicher gut für meine Master-Arbeit. Und wer weiß, vielleicht springt noch eine Promotion dabei heraus. Atmosphärische Forschung, das genau ist es, wofür ich mich als Biologin interessiere. Ein Forscherteam soll die riesigen Algenteppiche im Nordmeer untersuchen und die Auswirkung des Klimawandels auf die Pflanzen: Chlorophyllgehalt, Pigmente, Antioxydantien. Die Gletscher schmelzen und das ist der Grund, dass das Wasser im Nordmeer immer weniger salzhaltig ist. Die Konsequenzen für Flora und Fauna sind unübersehbar.

11. April
Endlich werde ich die unendliche Weite der Arktis, das Nordmeer, die Gletscher und – hoffentlich – die Eisbären sehen. Ob ich überhaupt welche sehe? Ich bin eher skeptisch. Schießtraining auf dem Bundeswehrgelände in Altenwalde war obligatorisch. Wir haben auf Papp-Eisbären gezielt. Es soll auf Spitzbergen mehr Eisbären als Menschen geben. Das glaube ich einfach nicht. Das Schießtraining hat mir Spaß gemacht. Aber kann ich auf ein so großes, lebendiges Tier schießen? Gibt es nicht so was wie eine Tötungshemmung? Zumindest beim ersten Mal? Aber ein zweites Mal gibt es nicht, hat man uns eingebläut.
Berichte und Filme über die Arktis haben mich schon als Kind fasziniert. Und so gefährlich wie noch vor 100 Jahren ist eine Expedition auch nicht mehr, geschweige denn ein organisierter Aufenthalt in einem Wissenschaftlerdorf auf Spitzbergen. Das musste ich aber erst einmal meinen Eltern klarmachen. Jutebeutel schleppen, Heizung herunterdrehen und den Müll trennen bis zum Gehtnichtmehr, das können sie, aber wenn die eigene Tochter mal wirklich was Sinnvolles gegen den Klimawandel tun will, ist das Geschrei groß. Sie machten sich Sorgen. Tja, ich bin die einzige Tochter. Die hätten sich noch zwei Söhne zulegen sollen, dann wüssten sie wahrscheinlich, was richtige Sorgen sind.
Eine Maschine der Norwegian Airlines wird uns morgen gegen Mittag von Oslo nach Longyearbyen bringen. Am nächsten Tag wird eine kleine Maschine uns nach Ny-Alesund fliegen.
»Im Bett sterben die meisten Menschen«, hat meine Oma immer gesagt, »nicht beim Flugzeugabsturz.« Recht hatte sie.

12. April
Beim Landeanflug haben wir alle den Atem angehalten: Schnee in großen Flocken, die Sicht in Nebelfetzen zerrissen, seitlicher Wind mit kräftigen Böen. Der große Flieger schaukelte heftig. Wir krallten uns in unsere Sitze, aber der Flugkapitän meldete sich über Mikrofon. Dies sei nicht seine erste Landung bei schlechtem Wetter, sagte er auf Englisch und Norwegisch. Im Ernstfall würde er durchstarten. Keine Panik! Ich atmete tief durch und dachte an die beruhigenden Worte meiner Oma.

13. April
Über Nacht heftiger Kälteeinbruch, die Straßen und Pisten in Longyearbyen liegen unter einer dicken Eisschicht. Da kann auch der flugerfahrene Mats-Ole, der uns und weitere zwölf Wissenschaftler mit einer kleinen Maschine nach Ny-Alesund bringen soll, nichts machen.
»Schietwetter«, sagt er mit stark hamburgischem Akzent und zuckt die Schultern. Die Flughafenpisten müssen enteist werden, der Flieger natürlich auch. Wir schlindern zurück ins Hotel, schieben die schweren Rucksäcke vor uns her. Auf der spiegelglatten Straße setze ich mich heftig auf den Po, trotz Spikes an den Füßen. Aus dem Hotelfenster gucke ich auf die menschenleeren Straßen. Eine graue Geisterstadt in diffusem, hellem Licht. Ich schieße ein paar Fotos, dann breite ich meine Papiere auf dem kleinen Tisch aus und versuche, mich auf die Forschungsarbeit vorzubereiten. Ich habe Bammel. Was kommt rein praktisch-technisch auf mich zu?
Ich bin ganz froh, dass der Chef gegen 18 Uhr an die Tür klopft und fragt, ob wir zusammen ins kleine Restaurant nebenan schliddern sollten, um ein bisschen norwegischen Lachs zu essen. Vielleicht ein oder zwei Gläser Weißwein zu trinken.
»Wein? Der ist doch in Norwegen viel zu teuer«, sage ich.
Er lacht: «Spitzbergen ist zollfreies Gebiet. Komm, los, ich lade dich ein! Die französischen Kollegen kommen auch mit. Übrigens, ich heiße Christian. Wir duzen uns hier untereinander.«
»Ich bin Janina!«
»Ich weiß. Nun mal los, Janina!«

14. April
War ein netter Abend gestern. Habe endlich auch die französischen Wissenschaftlerinnen näher kennengelernt, mit denen wir uns das blaue Haus teilen: zwei Biologinnen, eine Physikerin. Auch mein Chef ist gar nicht so alt, wie sein Professorentitel vermuten lässt. Er sieht auch noch ganz jungenhaft aus. Mit viel Haar und so und einem netten Lachen. Er hat mir Einzelheiten über Ny-Alesund erzählt. Ich wusste schon, dass etwa 160 Menschen dort im Sommer leben, Wissenschaftler aus Deutschland, Norwegen, Frankreich, Dänemark, ein paar Japaner, alles in allem zwölf Nationen. Die meisten bleiben nur ein paar Wochen während der Sommermonate. Im Winter leben nur 30 Leute im Dorf. Drei Wissenschaftler halten das ganze Jahr über die Stellung: ein Stationsleiter, ein Ingenieur, ein Logistiker. Zurzeit zwei Frauen und ein Mann.
»Gibt es da keine Probleme?«, habe ich Christian gefragt.
»Was für Probleme?«, fragte er. »Wissenschaftliche, interkulturelle … ?« Er hat gegrinst und ich habe gefühlt, wie ich rot wurde. »Nee, äh … «
»Ach, zwischenmenschliche, meinst du wohl! Liebesgeschichten!« Wieder sein jungenhaftes Lachen. »Na klar, sonst wäre es auch zu langweilig. Zurzeit hat die Stationsleitung was mit einem russischen Taucher, hört man so. Klatsch und Tratsch, nehme ich an. Aber wer weiß. Also hüte dich vor den Tauchern. Das sind virile Naturburschen, bleiben volle drei Monate im Sommer und fürchten weder Tod noch Teufel noch Eisbären. Auch keine hübschen deutschen Studentinnen.«
Christian bestellte noch Wein. Wir prosteten uns zu. Wirklich netter Kerl. Leider verheiratet. Schade! Draußen spiegelten sich die Neonlichter der Reklametafeln auf den spiegelglatten, hellen Straßen.

15. April
Morgens der erste Blick aus dem Fenster. Immer noch dieselbe Szenerie. Unter einer dicken Eisschicht liegen Straßen, Häuser, Autos. Nichts bewegt sich. Was kostet es eigentlich die Uni, wenn wir so lange hier festsitzen.
Am frühen Abend klopft Christian. Er hat sich mit den norwegischen und französischen Kollegen abgesprochen und das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven kontaktiert. Wenn sich bis morgen die Situation nicht geändert hat, werden wir mit einem Hubschrauber abgeholt und nach Ny-Alesund gebracht. 700 Euros pro Person, eine Menge Kohle, deshalb hat man erst gezögert. Aber untätig hier herumzusitzen, kostet auch. Die geplanten zweieinhalb Wochen sind kurz genug.

16. April
Nur 10 kg Gepäck statt 20 kg. Das juckt mich nicht. Eh zu wenig schicke Klamotten, um jemanden – Männer? – zu beeindrucken. Alles praktisch, kälte- und schneefest. Die schweren Stiefel fördern auch nicht gerade den sexy Hüftschwung. Einen wasserfesten Overall kriege ich in Ny-Alesund geliehen, das Gewehr auch.
Im Hubschrauber zu fliegen ist ja noch geiler als in einem Flugzeug zu schaukeln! Langsam schraubt sich der Helikopter hoch. Von Longyearbyen bis Ny-Alesund nur glitzernde Eisflächen. Auf den Bergspitzen liegt Schnee, frostiger, weißer, blendender Schnee. Nach dem Kalender hat der Sommer begonnen, die Sonne wird monatelang über dem Horizont stehen. Der Boden taut auch im Hochsommer nur 10 cm tief auf, manchmal gar nicht. Permafrost. Der Kongsfjord dagegen ist eisfrei, vor 10 oder 12 Jahren war er zum letzten Mal zugefroren. Der Westspitzbergenstrom – ein Ausläufer des Golfstroms – führt westlich vorbei, der Klimawandel tut sein Übriges. Den genau sollen wir ja erforschen, lautet der wissenschaftliche Auftrag.
Ohne Probleme hovert der Hubschrauber zum Hangar, setzt langsam auf, die Kufen auf dem Eis rutschen nicht. Im Gegensatz zu uns Menschen, die wir mit stöckerigen Schritten zur kleinen Empfangshalle gehen. Jetzt bloß kein Bein brechen. Dann aus der Traum von der Karriere als Klimaforscherin.
Ny-Alesund ist der nördlichste Ort in der Arktis. Ausgangspunkt vieler spektakulärer Expeditionen und Rettungseinsätze. Roald Amundsen war hier. Und sein Freund-Feind Umberto Nobili, den zu retten Amundsen das Leben kostete.
Im Dorf gibt es nur 30 Häuser, hübsche norwegische Holzhäuser in Rot und Gelb, direkt am Fjord. Ein einziges Haus in Blau. Ny-Alesund ist ein Dorf nur für Wissenschaftler. Im Sommer ankert manchmal ein Kreuzfahrtschiff weiter draußen, die Touristen werden kurz ausgebootet und marschieren durchs Dorf, streng bewacht von den Guides der Kings Bay Company, einem norwegischen Staatsbetrieb, der den ursprünglich privaten Kohlebetrieb in Ny-Alesund übernommen hat, als er Pleite ging. Schnell ein Stempel auf die Ansichtskarte vom nördlichsten Postamt der Welt, dann werden die Besucher zurückgeführt zum Beiboot. Es wird kein Risiko eingegangen mit erlebnissüchtigen Touristen, die allesamt so gerne einen Eisbären aus der Nähe sehen würden. Um ein Foto zu machen.
Das blaue Haus – die Koldewey-Station – teilen sich deutsche und französische Wissenschaftler. Meine Zimmergenossin Marga ist schon älter, kurz vor der Pensionierung, wie sie erzählt. Sie war schon oft hier und hat viel Erfahrung. Dies sei ihr letzter Aufenthalt in Ny-Alesund, ehe sie Abschied nehmen muss vom Wegener – Institut. Ich finde sie sehr sympathisch und offen, wir werden uns gut verstehen. Keine von uns schnarcht, behaupten wir beide.
Morgens, mittags und abends treffen sich alle Wissenschaftler zum Essen in der Kantine. Sechs bis acht Köche arbeiten übers Jahr hier, gehören zur festen Belegschaft der Kings Bay Company, die für die Organisation des Dorfes zuständig ist: Wasser, Strom, Straße, das Essen usw.

17. April
Richtig dunkel wird es nicht mehr hier auf Svalbard, übrigens das norwegische Wort für Spitzbergen. Die Sonne sinkt nicht mehr unter den Horizont. Aber natürlich ist der Grad der Helligkeit abhängig von vielen Faktoren, erklärt Marga mir, ob der Himmel klar ist oder eine dicke Wolkendecke die Sonne verdeckt. Eine Mitternachtssonne, die durch Brechung ihrer Lichtstrahlen fünf- bis sechsfach im Dunstschleier erscheint, das müsse man erlebt haben, um zu begreifen, warum Menschen immer wieder von der Arktis magisch angezogen werden.
»Oder von der Antarktis«, sage ich und komme mir sofort naseweis vor. Marga lächelt.
»Oder von der Antarktis. Aber da war ich auch noch nie. Diesen Traum möchte ich mir noch erfüllen. Wenn die Reise bloß nicht so teuer wäre.«
Ich habe trotz der Helligkeit gut und fest geschlafen. Die lichtundurchlässigen Rollos würden zwar den Raum total verdunkeln, aber das mögen weder Marga noch ich. Wenn wir schon so hoch im Norden sind, dann wollen wir auch die hellen Nächte erleben. Außerdem habe ich gelesen, Helligkeit soll die Gehirnfunktion ankurbeln. Marga lachte: »Dann mal hoch mit den Rollos! Gehirnschmalz kann nie schaden.«
Heute werden wir Neuankömmlinge erst einmal das Dorf besichtigen, einen kurzen Vortrag über die Geschichte der Kings Bay Company hören und unsere Arbeitsplätze, sprich, die Labors kennenlernen. Allerdings der wichtigste Programmpunkt ist: Schießtraining. Absolutes Pflichtprogramm. Ich verdrehe die Augen. Muss das sein?
»Das muss sein! Zu deiner eigenen Sicherheit. Kein Schritt aus dem Dorf ohne geladenes Gewehr. Die Eisbären sind hungrig, trauen sich manchmal bis ins Dorf hinein. Immer vorsichtig umgucken, nie blind durch die Gegend stolpern.«
Wir stapfen über den Schnee zum Schießplatz. Ich stelle mich nicht ungeschickt an, lande ein paar Treffer. Die blechernen Zielscheiben klirren.
»Nur schießen, wenn es absolut nötig ist«, sagt der norwegische Trainer. » It`s Bear Country. We are only guests.« Das leuchtet mir ein.
»Aber wenn ihr schießt, schießen müsst, dann lasst den Bären auf 30 Meter herankommen und zielt auf den Brustbereich. Der Kopf ist schwer zu treffen. Und ein angeschossener Eisbär, gegen den habt ihr keine Chance.«
»Ich schieße nicht gut«, vertraut mir Marga auf dem Rückweg an. »Irgendwas mit den Augen. Oder einfach psychisch. Ich will einfach nicht schießen.«
»Bist du denn schon mal in eine gefährliche Lage gekommen?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich passe höllisch auf. Aber wenn du länger hier lebst, bleibt eine Begegnung mit einem Eisbären nicht aus. Meistens passiert nichts, weil er die Menschen auch nicht mag und sich trollt.«
Von nun an werde ich mich umschauen, wenn ich das Haus verlasse, schwöre ich mir.

18. April
Mein erster Arbeitstag: Algen einsammeln und im Labor aufhängen, heißt das Programm, das mir Marga gestern Abend noch kurz vorgestellt hat.
»Wirst du schnell seekrank?«, fragt sie besorgt.
Woher soll ich das wissen? Habe ich noch nie so richtig ausprobiert.
»Bestimmt nicht!«, prolle ich ein bisschen. Marga runzelt die Stirn, sagt aber nichts.
Unten am Fjord stehen Francesco und Gunnar, zwei junge Kerle in Taucheranzügen. Sie schieben das Schlauchboot mit Außenborder ins Wasser. Der Fjord ist ruhig, kleine Wellen laufen am Ufer aus. Marga lässt sich an Bord helfen, ich will natürlich beweisen, dass ich jung und sportlich bin, mache einen eleganten Satz vom Anleger, bleibe mit einem Fuß an einer entlang der Bordwand gespannten Leine hängen und stolpere schnurstracks in Francescos Arme, der mich ein bisschen länger festhält als nötig.
»Wohin so eilig«, sagt er und lächelt mich an. »Das Wasser im Fjord ist noch zu kalt zum Schwimmen.«
Das war ja schon mal ein guter Einstieg. Ich könnte mich ohrfeigen. Gunnar startet den Motor und wir dröhnen den Fjord hinauf. Zum Glück habe ich den dicken Overall an, die Wollmütze, Kapuze drüber, die gefütterten Pelzhandschuhe. Der Wind ist saukalt, die Außentemperaturen unter dem Gefrierpunkt.
»Der Fjord friert nicht zu wegen des Golfstroms«, sagt Marga. »Und genau das ist das Problem für die Eisbären. Die Robben sind im Wasser zu schnell für sie, die kriegen sie nicht. Und Eisschollen, auf denen sie treiben können und zupacken, wenn eine Robbe auftaucht, gibt es nicht mehr.«
Vierhundert, fünfhundert Meter rauschende Fahrt, dann stoppt Gunnar das Boot, macht an einer Boje fest. Die Männer bereiten sich auf den ersten Tauchgang vor. Hier draußen sind die Wellen höher, das Boot tanzt an der Boje. Ich schaue auf die Berge um mich herum, staune über die türkisen Abbruchstellen, lasse mir von Marga die Namen der im Sonnenlicht glitzernden Gletscher nennen und schaue erst wieder aufs Boot, als der erste Taucher den Arm mit einem Strauß langer, grüner Algen hochhält.
»Wir ernten sie«, sagt Marga. »Die Algen hängen an Seilen im Wasser in unterschiedlichen Tiefen: direkt unter der Oberfläche, fünf Meter und zehn Meter tief. Wir sammeln sie ein, hängen sie in Klimaräume, verändern die Temperatur und die UV-Strahlung, stanzen dann kleine Disks heraus und schicken die ausgestanzten Scheiben in die Laboratorien zu Hause. Wir wollen herausfinden, inwieweit die erhöhten Wassertemperaturen und der niedrigere Salzgehalt die Algen verändern.«
Ich greife zu, werfe die zwei Meter langen Algen ins Boot.
»Auch die 100m langen Seile müssen aufgewickelt werden«, sagt Marga. Sie stellt einen großen Eimer vor ihre Füße und legt gekonnt die Leinen, die die Taucher uns anreichen, zu Augen zusammen und versenkt sie im Blechkübel. Ich will ihr helfen, verheddere mich aber hoffnungslos in den meterlangen Stricken.
»Lass mal«, sagt Marga. »Das Aufschießen übst du erst einmal an Land. Die Tampen müssen so gut gerollt werden, dass sie später problemlos aus den Eimern auslaufen können.«
Ich beiße die Zähne zusammen und versuche es noch einmal, merke aber, wie mir schlecht wird. Mein Mageninhalt steigt immer höher. Ich wanke zur nächstgelegenen Bordkante.
»No, no!«, schreit Gunnar. »Don`t throw up against the wind!« Er zerrt mich auf die Lee-Seite. Welche Blamage, denke ich.
Aber Marga sagt: «Macht nichts, an Land geht es dir wieder besser. Das ist alles zu viel am ersten Tag.«
Ich bin froh, dass die Taucher ins Boot klettern und den Motor anwerfen. Wir fahren zum Dorf zurück. Ich fixiere starr den Anlegesteg. Gunnar sieht mich prüfend an.
»Bisschen weiß um die Nase, unser Küken«, sagt er.
»Leave her alone!«, sagt Francesco. Und zu mir: »Das geht fast allen so in den ersten Tagen. Wirst dich an das Geschaukel gewöhnen. Schau aufs Ufer.«
Wir schleppen die Algen zum Labor und verfrachten sie in unterschiedliche Klimaräume: 0 Grad, 8 Grad 10 Grad. Nach dem Lunch werden wir Hunderte, Tausende von kleinen, runden Plättchen herausstanzen und die Proben für den Transport nach Deutschland verpacken.

19. – 21. April
Zum Glück müssen wir nicht jeden Tag mit dem Boot raus. Wir bereiten die Algenproben für die Verschickung vor. Eine etwas eintönige, aber hochkonzentrierte Arbeit. Jede Probe wird gekennzeichnet, nichts darf verwechselt werden. Ich arbeite Seite an Seite mit Marga, die mich freundlich in alle Handgriffe einweiht. Sie fliegt am nächsten Wochenende nach Bremen zurück. Ich werde dann ihre Arbeit für die folgenden zehn Tage übernehmen. Bis dahin habe ich auch hoffentlich gelernt, die langen Tampen »aufzuschießen«.
»Morgen geht es wieder raus«, sagt Francesco und schiebt mir beim Abendessen eine Packung Tabletten rüber. »Gegen Seekrankheit«, steht drauf. Er lächelt mich an und zuckt die Achseln. »Die helfen bestimmt. Habe ich am Anfang auch genommen.«
Nach dem Abendessen schultert er sein Gewehr und wir gehen zusammen hinunter zum Fjord. Der Himmel ist wolkenlos, kein Windhauch, nur das Schreien der Eismöwen über unseren Köpfen.« Er greift nach meiner Hand: »Ich mag dich. Sehr sogar.«.
Nachts liege ich lange wach. Auf was lasse ich mich da ein? Ich denke an die warnenden Worte von Christian in Longyearbyen. Ach was, ich bin eine erwachsene Frau. Und in gut 10 Tagen fliege ich sowieso wieder nach Hause. Ein bisschen verliebt sein, das fühlt sich doch gut an. Schadet keinem.

22. April
Wieder raus mit dem Schlauchboot. Und die Pillen helfen wirklich. Der Tag läuft wie geschmiert. Sogar das Aufschießen. Nicht der kleinste Anflug von Seekrankheit trotz rauer See.
»Sie ist ganz fix, unsere Kleine«, sagt Francesco und gibt mir einen schnellen Kuss auf die Wange. Gunnar kneift die Augen zusammen, sagt aber nichts.
Beide seien sie Atmosphärenforscher, erzählt mir Francesco am Abend in der Bar. Gunnars Frau habe sich von ihm getrennt, weil er das Nordlicht mehr liebe als sie, hat sie behauptet. Jeden Sommer drei Monate auf Spitzbergen, das wolle sie nicht mehr akzeptieren. Oslo sei ihr kalt genug.
»Und du?«, frage ich Francesco.
Seine Doktorarbeit sei so gut wie fertig, aber zurzeit verdiene er sein Geld als Taucher. Das mache ihm mehr Spaß als die Arbeit im Labor. Die komme noch früh genug

23.- 24. April
Am Wochenende sind wir mit sechs Leuten mit Schneemobilen rausgefahren zu einer Schutzhütte am anderen Ende des Fjords. Das war Gunnars Vorschlag und stieß auf begeisterte Zustimmung. Franceso kam mit, natürlich, aber auch Christian und die dänische Doktorandin Inge-Lise, die am Tag zuvor ihr Schießtraining absolviert hatte. Marga wollte nicht, sie musste noch packen und einige Dinge organisieren, denn ihr Flieger nach Tromsö würde früh am Sonntagmorgen starten. Schade, sie mag ich noch von allen am liebsten. Ich hoffe, wir sehen uns in Bremen wieder.
Der Himmel war von einem strahlenden Blau, als wir aufbrachen. Der Schnee glitzerte und knirschte unter den Kufen der Schneemobile. Alle hatten dunkle Brillen aufgesetzt, die gegen die extreme UV-Strahlung schützten. Ein endloses Schneefeld vor uns, auf der einen Seite majestätische Berge in gleißendem Weiß. Neben uns das eisfreie Wasser des Fjords. Riesige Gletscherbrocken waren abgebrochen und schwammen türkisblau im Wasser. Sogar Robben konnten wir ausmachen, die sich auf den Schollen sonnten. Francesco blieb mit der Kufe seines Schneemobils an einer schneebedeckten Felsenkante hängen, wurde aus dem Sitz geschleudert, doch der Schnee war tief und weich genug. Er landete sanft. Der Wind, der uns entgegenschlug, war scharf und kühl, so dass wir die Schals bis an die Augen zogen. Übermütig erhöhten die »Jungs« die Geschwindigkeit, johlten und schrien. Das war die Bilderbuch-Arktis aus den Naturfilmen im Fernsehen, irgendwie irreal und doch voll und ganz zu spüren, ein Glücksgefühl im ganzen Körper. Was konnten uns die vollgepackten Strände des Südens noch bieten? Wir waren allein in einer grandiosen Landschaft kalbender Gletscher, endloser Schneeflächen. Eiderenten auf dem blau-grauen Wasser des Fjords, kreischende Eissturmvögel im Sturzflug. Wir rasten in unseren Schneemobilen dahin, den Wind im Gesicht, das Gefühl von Unsterblichkeit. Glück pur.
Wir hatten genug Proviant eingepackt für einen gemütlichen – hellen – Arktis-Abend, auch reichlich Holz, um den gusseisernen Ofen in der Hütte zu befeuern.

Ärgerlich war nur, dass ich morgens so früh zu dem etwas abseits stehenden Klohäuschen musste. Wahrscheinlich zu viel getrunken gestern Abend.
Als ich die Hosen wieder oben hatte und die Tür öffnete, traf mich fast der Schlag. Vor mir hockte ein kleiner, süßer Eisbär. Lili, war blöderweise mein erster Gedanke. Lili aus Bremerhaven. Wie kommt die hierher? Aber dann sah ich aus den Augenwinkeln schon die Silhouette der sich drohend aufrichtenden Bärin hinter dem Jungtier. Ich knallte die schwere Tür zu, schob den Riegel vor. Was nun? Ein Gewehr hatte ich natürlich nicht mitgenommen. Purer Leichtsinn, würde Gunnar schimpfen. Aber wer nimmt schon ein Gewehr mit aufs Klo. Natürlich lag auch das Funkgerät in der Hütte.
Sollte ich an die Tür hämmern? Krach machen? Marga hatte immer eine Trillerpfeife dabei, die einen so scheußlichen Ton von sich gab, dass zumindest menschliche Ohren davon abzufallen drohten. Ich hämmerte ein bisschen an die Tür, rief kläglich nach … ? Ja, nach wem sollte ich rufen? Wäre Marga doch bloß hier. Aber die Männer schliefen noch, lang und fest, wie ich befürchtete. Ich gab`s auf. Reizen wollte ich die Bärin auch nicht, höchstens durch Krach vertreiben. Aber wie? Ich hatte keine Chance, die Hütte rennend zu erreichen, das wusste ich. Die Bärin würde schneller sein. Also: abwarten. Irgendwann würde wohl noch jemand aus der Gruppe »müssen« müssen. Hoffentlich taperte der- oder diejenige nicht so schlaftrunken aus der Tür wie ich. Es war saukalt in der Absteige. Ich schob den Reißverschluss des gefütterten Anoraks, den ich sorglos übergeworfen hatte, mit klammen Fingern hoch, zog die Kapuze über den Kopf. Handschuhe? Fehlanzeige. Ich versteckte die Hände in den hinuntergezogenen Ärmeln, setzte mich auf den hölzernen Klodeckel und richtete mich auf eine längere Wartezeit ein. War die Bärin noch da? Ich hörte nichts. Aber die Tür einen Spalt aufzumachen und hinauszulugen, das traute ich mich nicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich einen Schuss. Dann rief jemand meinen Namen. Hämmerte an die Tür. Ich schob vorsichtig den Riegel zur Seite. Inge-Lise stand mit dem rauchenden Gewehr vor der Tür.
»Gottseidank«, sagte sie. »Wir hatten schon Angst, dass … Ich konnte mit einem Warnschuss die Bärin vertreiben. «
Ich fiel ihr um den Hals. Erst jetzt löste sich die Spannung. Ich heulte.
Sie umarmte mich fest. »Alles gut«, sagte sie. »Alles gut!«
Ich nickte. »Danke, Inge-Lise. Danke! Danke!«
Auch die andern waren aus der Hütte gekommen.
»Da ist ja unser verlorenes Schaf«, sagte Francesco. Keiner lachte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Christian. Ich nickte.
Es wurde trotzdem noch ein schöner Tag. Nur umschauen tue ich mich mittlerweile ununterbrochen, ob nicht irgendwo ein Bär …. Und zum Schießtraining gehe ich jetzt regelmäßig. In der Tat: »It`s Bear Country.« Ich habe meine Lektion gelernt.

25. April
Der Chef hat gefragt, ob ich noch eine Woche länger bleiben könne. Mein Ersatz, ein Student aus Potsdam, sei wegen Krankheit ausgefallen. Ich hätte mich so gut eingearbeitet, er würde sich freuen, wenn ich zusagte. Ich bin ganz aus dem Häuschen. Christian will mich, die Anfängerin, behalten! Was will ich mehr? Ich könnte ihn knutschen, tue ich natürlich nicht. Aber meine leuchtenden Augen hat er sicher bemerkt. Ich sage zu. Ohne zu zögern.
Francesco allerdings wird blass und still.
»Freust du dich nicht?«, frage ich.
Er druckst herum.
«Oder kommt deine Freundin?«
Ein Schuss ins Blaue, nicht wirklich ernst gemeint.
»Ja, also, es ist so … Meine Freundin kommt in ein paar Tagen zu Besuch. Aus Rom. Wusste ich vorher nicht. Sie wollte mich überraschen. Zu meinem Geburtstag. Du hast doch sicher auch einen Freund zu Hause, oder?«
Er senkt den Kopf, dreht die Hände nach außen. Blickt mich an wie ein geprügelter Hund.
So nicht, Freundchen, denke ich und gehe wortlos weg. Christian hat Recht gehabt mit seiner Bemerkung über die Taucher. Und ich bin ein blödes, naives Huhn. Aber eines weiß ich trotzdem: Ich lasse mich nicht vertreiben. Ich bleibe, will bleiben. Die Arbeit fasziniert mich. Die Freundin aus Paris, das ist sein Problem, nicht meins.


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