All-Inclusive
“Geh noch zur Toilette, Alexander“, höre ich in der Flughafenhalle eine ältere Frau zu ihrem Mann sagen. “Sonst musst du wieder im Flugzeug.”
“Du behandelst mich wie ein kleines Kind”, knurrt der Gatte, macht sich aber brav auf den Weg.
Ich sitze an diesem frühen verschneiten Februarmorgen im Hamburger Abflugsterminal und warte auf den Flug nach Antalya. Ein wenig wehmütig betrachte ich die grauhaarigen Paare um mich herum, die wohl ebenfalls von der Sehnsucht nach Sonne getrieben, ein Hotel an der türkischen Riviera gebucht haben. Nach einer missglückten Ehe lebe und reise ich gerne allein. Trotzdem kommt mir heute die Geschichte von Philemon und Baucis in den Sinn, jenem antiken Paar, das sich bis ins hohe Alter so innig geliebt hat, dass die Götter den alten Leuten den Wunsch erfüllten, sie gemeinsam sterben zu lassen, sodass keiner das Grab des andern sehen musste.
Im Flugzeug verstaue ich meinen Rucksack im Schapp über meinem Sitz, assistiert von dem Herrn mit der schwachen Blase, der mir galant das Gepäck aus der Hand nimmt, ohne sich um das “Sei vorsichtig, dein Kreuz” seiner Frau zu kümmern. Der Mann tut mir schon fast leid und ich lächele ihn an. Er sieht auch gar nicht unattraktiv aus, groß und schlank und mit dichtem, kurz geschnittenem, grauem Haar. Warum lässt er sich herumkommandieren?
Als er sich auf den mittleren Sitz neben mich setzen will, greift seine Frau wieder ein. “Alexander, setz dich auf den Außensitz, da kannst du deine Beine besser ausstrecken. Denk an deine Neigung zur Thrombose.” Er gehorcht wortlos, wirft mir aber einen entschuldigenden Blick zu und rollt mit den Augen. Komm mir nicht so, denke ich. Auf dieses Spiel lasse ich mich nicht ein. Das ist deine Frau und mit der musst du klarkommen.
Die Blicke von Männern zeigen mir manchmal, dass ich trotz meiner 54 Jahre immer noch eine ansehnliche Frau bin. Doch ich meinem Leben als Single habe ich gelernt, mich vor verheirateten Männern zu hüten, die sich bei der Freundin oder der Geliebten bitter über ihre Ehefrauen beklagen, aber feige heim ins Körbchen hüpfen, wenn es ernst wird. Um mit einem Flirt ihr männliches Ego aufzupolieren, dazu bin ich mir zu schade.
Der Flieger setzt sich in Bewegung und rollt zur Startbahn. Ich lehne den Kopf ans Fenster und schließe die Augen. So kann ich am besten meine Flugangst bekämpfen, die mich immer kurz vor dem Start überfällt. Erst als der Airbus seine Höhe erreicht, lehne ich mich erleichtert zurück und genieße sogar das Bordfrühstück. Weißbrot ist nicht unbedingt mein Fall, und die Wurst ist auch gewöhnungsbedürftig, aber der Kaffee ist gut und ich vertiefe mich in den neuen Roman von Jonathan Franzen und tauche ein in eine verwickelte Familiengeschichte. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffne und die Jalousie vor dem runden Fenster hochschiebe, muss ich blinzeln. Die graue Wolkendecke liegt hinter uns und wir fliegen in großer Höhe über die anatolische Gebirgswelt, unter uns die schneebedeckten Dreitausender mit ihren schimmernden Gletscherzungen. Auch kleinere Dörfer sind zu erkennen. Sind das die berühmt-berüchtigten anatolischen Dörfer, deren Bewohner ihre Söhne und Töchter nach Deutschland schicken, um dem armseligen Leben zu entgehen? Leben hier die kurdischen Familien in ihren mittelalterlichen Strukturen, in denen der Vater Herr ist über Leben und Tod, die Söhne züchtigen, die Töchter zwangsverheiraten kann? Ich überlege, ob sich auch in Anatolien die Machtstrukturen im Alter umdrehen. Wird auch in patriarchalischen Verhältnissen der ältere Mann wieder zum Kleinkind, das von der Frau zur Toilette geschickt wird?
Die Maschine beginnt den Sinkflug. Die Landebahn kommt in Sicht und das Flugzeug setzt holpernd auf. Die Bremsen greifen mit rauschendem Getöse, die Passagiere werden in ihren Gurten nach vorne gedrückt. Das Flugzeug wird langsamer, rollt zum Ankunftsgebäude. Die Luft ist angenehm warm. Ein Zubringerbus bringt mich und acht weitere Touristen in ein Fünf-Sterne-Hotel in die Nähe von Kemer. Noch vor ein paar Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, eine All-Inclusive Reise zu buchen, und das auch noch allein.
Das Zimmer gefällt mir. Vom Balkon aus hat man einen weiten Blick aufs Meer. Ich ziehe mich um, nehme meinen Laptop, um noch ein paar Mails abzurufen, setze mich an einen kleinen Tisch in der Lobby. Ein Menschenauflauf im Gang lässt mich aufblicken. Von allen Seiten eilen schick gekleidete Paare herbei und versuchen, durch die zweiflügelige Glastür in den Speisesaal zu spähen. Offensichtlich soll bald das abendliche Büffet eröffnet werden und niemand will zu spät kommen. Haben all diese Leute wirklich Hunger oder ist es reiner Futterneid, der sie so früh schon in Richtung Speisesaal treibt? Der Geräuschpegel steigt an. Ganz vorne wird gedrängelt und geschubst. Meine Güte, sind diese Rentner alle kurz vor dem Hungertod? Essen als Erotik des Alters?
“Immer wird die Tür zu spät geöffnet”, ereifert sich ein korpulenter älterer Herr im dunklen Jackett und blütenweißen Hemd. “Pünktlichkeit lernen die Türken wohl nie!”
“Josef, nun schimpf nicht schon wieder”, sagt die Frau an seiner Seite und streichelt beruhigend über seinen Arm. “Schau, da kommen die Kellner ja schon!”
Und in der Tat nähern sich zwei schwarz gekleidete Kellner von innen her der Glastür, um sie aufzuschließen. Sie bewegen sich langsam, fast zeremoniell. Ihre gleichmütigen, freundlichen Gesichter zeigen nicht, was sie denken.
“Meine Güte, sind die langsam”, schimpft der Rentner wieder. “Ist doch klar, dass sie hier zu nichts kommen. Diese Ineffektivität!”
“Was wollen Sie”, mischt sich ein Mann von hinten ein. Ich drehe mich um. Es ist Alexander, der Mann aus dem Flugzeug, diesmal ohne seine Frau. “Wir sind hier in der Türkei. Deutsche rein, Türken raus? Was schlagen Sie vor?”
Ich bin so verblüfft, dass ich ihm anerkennend zulächle und den Daumen hochhalte.
“Ist doch wahr”, der Rentner gibt sich nicht so schnell geschlagen, “diese Unproduktivität, man könnte aus der Haut fahren. Haben Sie mal gesehen, wie langsam die morgens die Eier braten. Und immer nur ein Ei in der großen Pfanne.”
“Ja, klar”, spottet der andere. “Wir brauchen hier Produktivität wie bei uns. Einer von zehn arbeitet und die anderen neun kriegen Hartz IV. Klappt vorzüglich.”
Die Tür wird geöffnet und die Meute stürzt zur Atzung. Mir ist der Appetit vergangen. Ich versuche, gegen den Strom wieder hinaus in die Lobby zu kommen.
“Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Petersen. Würden Sie mir die Freude machen, mit mir zu essen?”
Ich schaue Petersen an. Er hat ein offenes, intelligentes Gesicht und sein Schlagabtausch mit dem nörgelnden Rentner hat mir imponiert. Ich willige ein wenig zögernd ein und wir setzen uns an einen Fenstertisch mit Blick auf den erleuchteten Palmengarten. Er erwähnt seine Frau mit keinem Wort und ich sehe keine Veranlassung nachzufragen. Wider Erwarten wird es ein amüsanter, anregender Abend. Petersen ist schon oft in der Türkei gewesen, spricht ganz passabel Türkisch und kann anschaulich und amüsant erzählen.
Am nächsten Morgen weckt mich das Licht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fällt. Ich spüre die helle Wärme im Gesicht, ehe ich die Augen aufschlage. Durch die halb geöffnete Balkontür höre ich das Rauschen des Meeres und das schabende Klatschen der Brecher an den Kiesstrand. Ich blicke auf die Uhr. Es ist erst sieben und ich bin noch etwas angeschlagen. Der gestrige Abend hat an der Bar geendet, an der ich mit Petersen noch den einen oder anderen Raki getrunken habe. Er sei Anwalt in einer größeren Sozietät in Hamburg gewesen, hat er mir erzählt, aber seit einem halben Jahr habe er sich in den Frühruhestand zurückgezogen, sei aber nicht glücklich mit der Entscheidung. Ich habe ihm von meinem stressigen Job an der Klinik erzählt und wir haben über das Älterwerden gesprochen, peinlich darauf bedacht, das Thema Partnerschaft und Ehe auszuklammern.
Heute ist die erste Wanderung auf dem lykischen Pfad angesagt und ich schiebe energisch die Bettdecke zur Seite und setze mich auf. Barfuß trippele ich auf den Balkon und genieße die Kühle der Fliesen unter meinen Sohlen. Ein wenig fröstelnd blicke ich auf die Hotelanlage unter mir. Ein Jogger läuft mit weiten ausholenden Schritten vorne am Meer entlang. So viel Selbstdisziplin möchte ich haben, dann würde ich auch leicht ein paar Pfunde loswerden.
Auf dem geschwungenen Swimmingpool schwimmt eine einsame Ente. Das nächtliche Quaken der Frösche ist verstummt, eine Katze nähert sich lautlos der Hotelterrasse, auf der die Köche das Frühstücksbüfett aufbauen. Der Duft von gebratenen Eiern steigt mir in die Nase und ich blicke auf die Rentner, die schon ungeduldig Schlange stehen, mit dem Teller in der Hand.
Ein wenig peinlich ist es mir schon, als ich mir später beim Frühstück verstohlen ein kleines Lunchpaket mache. Vielleicht sollte ich aufhören, über die Langzeiturlauber zu lästern, denke ich, und lasse schnell ein Brötchen und einen Apfel in meinem kleinen Rucksack verschwinden. Aber die Wanderung soll bis in den Nachmittag hinein dauern, und ich bin nicht sicher, ob wir unterwegs einkehren werden.
Das Altenheim macht einen Ausflug, denke ich, als ich als eine der Letzten den Bus verlasse und auf die Reihe der grauen Köpfe vor mir blicke, die langsam den Bergpfad hinaufsteigen. Aber ich werde schnell eines Besseren belehrt. Unser Wanderführer legt ein gutes Tempo vor und ich muss mich anstrengen, um mitzuhalten. Diese Langzeiturlauber sind eine trainierte Truppe, fit und gesund, und die meisten von ihnen wandern nicht zum ersten Mal. Man kennt sich untereinander, kommt ins Gespräch. Bei der ersten Pause herrscht schon eine solch entspannte und lockere Atmosphäre, dass ich beginne, mich wohlzufühlen.
Von dieser Höhe her ist die Aussicht auf das Meer grandios. Über uns erhebt sich der fast 3000m hohe Gipfel des schneebedeckten Tahtali, des lykischen Olymps. Verständlich, dass dieser Berg den antiken Küstenvölkern als Sitz der Götter galt. Vom Olymp waren Zeus und sein Sohn Hermes zu ihrer langen Wanderung aufgebrochen, auf der sie von Philemon und Baucis so großzügig bewirtet wurden, dass sie deren ärmliche Hütte zum Dank in einen goldenen Tempel verwandelten. Nun bist du in Gedanken schon wieder bei diesem alten Liebespaar, weise ich mich zurecht. Das wird ja langsam zur fixen Idee.
Doch ein paar Tage später lerne ich tatsächlich eine wieder auferstandene Version von Philemon und Baucis kennen. Das Paar ist mir schon bei der Ankunft aufgefallen. Er, groß und schlank, mit lauter Stimme und lebhaft gestikulierenden Händen, sie klein, zierlich, mit puppenhaftem Gesicht und großen blauen Augen, die immer wieder bewundernd zu ihm aufschauen. Ein pensioniertes Professorenehepaar aus Magdeburg, deren gemeinsamer Auftritt jeden Abend Aufsehen erregt. An seinem Arm schreitet sie graziös in ihren hochhackigen Pumps die Treppe hinab. Die bewundernden Blicke der ergrauten Herrenwelt nimmt sie routiniert wahr, sonnt sich in der männlichen Anerkennung und macht ihren Mann auf die Huldigungen aufmerksam. Dann scheint er noch größer zu werden, legt den Arm besitzergreifend um sie und strahlt. Habe ich endlich das glückliche alte Paar gefunden, ein Paar, dessen Liebe im Laufe der langen Jahre gewachsen ist, deren Gefühle sich nicht verbraucht haben im alltäglichen Streit des Alltags? Ich bin fasziniert.
Beim Ausflug nach Termessos setze ich mich im Bus hinter die beiden und fange ein Gespräch an. Der alte Kunstprofessor weiß viel über griechische und römische Kultur und Geschichte, erzählt anschaulich von dem im wilden Taurusgebirge gelegenen Stadtstaat Termessos, deren Bewohner herannahende Feinde schon von weitem orten und jeden Angriff abwehren konnten. Sogar Alexander der Große sei an dieser Festung gescheitert.
Nicht nur ich, auch die anderen Teilnehmer hören seinen Ausführungen fasziniert zu. Ein wenig überrascht bin ich jedoch, als ich bemerke, dass auch seine Frau aufmerksam lauscht. Sie muss die Geschichte doch schon viele Mal gehört haben, denn die beiden sind nicht zum ersten Mal hier. Ist ihr Interesse geheuchelt oder aufrichtig? Ich beobachte das Paar genau und versuche, auch mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ihre Reaktionen auf meine Fragen und Kommentare sind stark verlangsamt, anscheinend muss sie erst länger über den Sinn meiner Worte nachdenken, ehe sie antwortet. Immer wieder schaut sie verunsichert zu ihrem Mann auf und er umfasst beruhigend ihre Schultern, antwortet für sie. Und dann schwant mir nach und nach die bittere Wahrheit. Beginnende Demenz? Ich bin erschüttert und gleichzeitig bewegt, wie fürsorglich der Mann sich um seine Frau kümmert und dafür sorgt, dass möglichst niemand etwas von ihrer Krankheit ahnt. Noch kann er mit ihr reisen, und sie genießt ganz offensichtlich die Urlaubstage in seiner Gegenwart. Sie ist ruhig und gelassen, lacht, wenn er lacht, und ergreift immer wieder seine Hand.
Gibt es eine Philemon und Baucis – Geschichte nur, wenn ein Partner krank wird, den Verstand verliert? Ich wage nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Während der Rückfahrt weiche ich allen Gesprächen aus und setze mich auf die Rückbank. Auch als Petersen mir im Hotel begegnet und auf mich zugehen will, nicke ich ihm nur kurz zu. Ich will allein sein.
Am nächsten Vormittag, als ich es mir auf der Sonnenliege bequem gemacht habe und überlege, ob ich trotz des frischen Windes in die Wellen tauchen soll, kommt Alexander Petersen entschlossen auf mich zu und hockt sich neben mich in den Sand.
“Friederike, Sie weichen mir aus?”
Ich schlucke. “Sie sind verheiratet, nicht wahr?”
“Ja, und ich habe das nie geleugnet. Bedeutet das, dass es verboten ist, sich mit einer sympathischen und gut aussehenden Frau zu unterhalten und ihre Gesellschaft zu suchen?”
“Wo ist Ihre Frau?” Ich wische seine Worte mit einem Schulterzucken zur Seite.
“Meine Frau fühlt sich nicht wohl. Ganz offensichtlich bekommt ihr das Klima nicht. Sie leidet unter starken Depressionen, und wir hatten gehofft, die Sonne würde ihr gut tun. Leider ist das nicht der Fall.”
“Und was werden Sie nun tun?”
“Den Urlaub abbrechen. Wir werden heute Abend zurückfliegen. Das wollte ich Ihnen sagen. Und dass ich es schade finde, dass wir uns nicht näher kennen lernen konnten.“ Petersen lächelt mich an. “Ich weiß, was Sie denken. Sie möchten sich nicht benutzen lassen. Das kann ich verstehen.”
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
“Und vielen Dank für den netten Abend neulich. Es waren die schönsten Stunden in diesem Urlaub.”
Er beugt sich vor und ergreift meine Hand. “Auf Wiedersehen.” Und plötzlich küsst er mich auf die Wange. “Wir werden uns wiedersehen.” Er drehte sich abrupt um und geht in Richtung Hotel davon. Ich starre ihm nach.
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