Der Fall

Heinrich öffnet vorsichtig die Augen. Sein Kopf dröhnt. Mit den Fingern ertastet er eine Beule am Hinterkopf. Wieso liegt er auf dem Parkett im Wohnzimmer? Neben ihm eine Leiter, umgestürzt. Sein linker Fuß steckt zwischen den beiden oberen Sprossen, merkwürdig verdreht. Der Flokati vor dem hohen Mahagoni-Regal ist seitlich weggerutscht. Er spürt den harten Parkettboden unter seinem Rücken und versucht, die Leiter von seinem Fuß zu schieben. Einschießender Schmerz im Knie lässt ihn zurückzucken. Blitzende Kreise vor den Augen. Mit der Hand ertastet er mehrere Bücher, wild durcheinander gewürfelt. Eins ist aufgeschlagen. Er zieht es näher zu sich heran. Blinzelt auf den Titel:

Johann Wolfgang Goethe. Faust. Der Tragödie erster Teil. Hilflos schaut er an dem Wandregal hoch zu den weißen Stuckrosetten der Decke drei Meter über ihm. Auf dem obersten Brett des Bücherbords klafft eine Lücke. Mehrere Bände sind umgekippt, hängen bedrohlich über dem Rand. Heinrich hebt den linken Arm über sein Gesicht. Wie lächerlich, von den eigenen Büchern erschlagen zu werden.

Langsam kommt die Erinnerung zurück. Richtig, er hat die Leiter aus dem Werkraum geholt, sie an das Bücherbord gestellt. Wollte  einen Band von Goethes gesammelten Werken herunternehmen. Das war ihm offensichtlich gelungen. Googeln wäre ungefährlicher gewesen.

Aber was hat er mit Goethes Faust zu schaffen? Das war eher Helens Bereich. Lesen tat doch nur seine elegante, gebildete Frau, die verwöhnte Tochter aus gutem Haus, deren Eltern ihm das Startkapital für die Firma gegeben hatten. Heinrich bewegt vorsichtig sein linkes Bein. Sofort wird ihm wieder schlecht. Ruhig liegen bleiben, gleichmäßig atmen.

Richtig, Gabi hat ihn um Hilfe gebeten. Seit Helens Tod vor einem halben Jahr hing seine sechzehnjährige Tochter an ihm wie eine Klette. Am Dienstag schreibe sie eine Deutschklausur über den Faust. Gabi war ganz entsetzt, als er lapidar erklärte, er habe keine Ahnung, wovon sie spreche. Wütend war sie geworden. Dann hatte Mama doch Recht. Sie sagte immer, du seist ein Bildungsmuffel. Typisch Ingenieur. Kannst nur mit leblosen Dingen und Zahlen umgehen.

Auch aus dem Grab heraus macht Helen ihn noch schlecht. Helen, die Kunstexpertin. Helen, die jedes Buch las, das in den einschlägigen Literaturmagazinen empfohlen wurde. Helen, die kein Konzert, keine Kunstausstellung ausließ. Peinlich war er Helen geworden auf den Vernissagen und Finissagen, wenn sie mit ihren Freunden über Kunst debattierte und er schweigend daneben stand.

Autsch, er hat wieder versucht, sein Bein zu bewegen. Es schmerzt teuflisch. Sein Blick fällt auf die aufgeschlagene Seite.

Faust: Da steh ich nun, ich armer Tor!

Und bin so klug als wie zuvor;

Gilt das ihm? Wo war Gabi eigentlich? Natürlich, sie wollte mit einer Freundin zum Shoppen. Großzügig hatte er ihr zwei grüne Scheine in die Hand gedrückt. Bestechung, hätte Helen gesagt und die Mundwinkel nach unten gezogen. Du machst es dir leicht.

Heinrich bemüht sich hochzukommen. Null Chance. Wo bleibt Gabi nur? Und wo ist das Telefon? Der Hörer liegt nicht auf der Station. Natürlich nicht. Gabi und ihre Telefonitis. Sie trägt das Gerät überall hin. In die Küche, in den Garten, in die Garage. Neulich hat er das Teil aus der Badewanne gefischt.

Er reibt sich den schmerzenden Kopf und versucht, über den Boden zu robben, die Leiter hinter sich herziehend.

In der Küche plötzlich ein Klingeln. Gottseidank. Er beißt die Zähne zusammen. Befreit seinen Fuß. Zentimeter um Zentimeter schiebt er sich vorwärts. Das Klingelgeräusch kommt von der Arbeitsplatte. Wie soll er den Apparat erreichen? Er versucht, sich am Unterschrank hochzuhieven. Hoffnungslos. Sein Hemd klebt am Körper. Nicht schlappmachen jetzt. Langsam zieht er sich höher, ignoriert den pochenden Schmerz in seinem Bein. Seine Finger ertasten den Hörer. Rutschen ab. Das Gerät fällt auf den Boden, springt auf. Die Batterien rollen unter den Küchentisch. Er sackt zurück auf die Kacheln. Ihm wird schwarz vor Augen.

Als er das nächste Mal zu sich kommt, blickt er in das Gesicht seiner Tochter. «Wo bin ich?»

»Im Krankenhaus, Papa. Du hast dir die Kniescheibe zertrümmert. Und eine Gehirnerschütterung hast du auch.«

Die unförmige Gipsröhre in der Schlinge vor ihm, offensichtlich sein Bein. Der Galgen am Fußende. Er schließt die Augen.

»Papilein, brauchst du was?«

»Ja, meine Zahnbürste. Einen Schlafanzug.«

Sterile weiße Krankenhauswände, ein tickender Monitor. Ein Gedanke blitzt auf.

»Und den Faust. Bring mir den Faust mit.«

»Was?«

»Den Faust von Goethe. Ich will ihn lesen«

»Du? Den Faust

»Warum nicht? Hältst du mich für zu dumm?»

Gabi wird rot.

»Bitte, der Band liegt auf dem Boden im Wohnzimmer.«

Sie geht zur Tür. Schließt sie leise.

Er rennt den Waldweg entlang. Keuchend. Im Mund ein salziger Geschmack. Der Geschmack von Schweiß und Tränen. Tränen der Wut. Tränen der Demütigung. Sie machen ihn blind für die Frühlingsblumen am Rand. Für die sprießenden Blätter an Bäumen und Büschen. Ungeduldig wischt er sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Trabt vorbei an schmutzig-grauen Schneeresten in den Mulden. Glitscht aus. Versucht, die Balance zu halten.

Helens Gesicht tauchtvor ihm auf. Ihre hochmütig hochgezogenen Augenbrauen, ihre spöttisch verzogenen Lippen.

«Ich werde dich verlassen!»

Sein gestammeltes Warum.

«Es gibt einen anderen Mann. Gebildet, sensibel…»

«Aber ich…»

Ihre ungeduldige Handbewegung. «Du bist ein Langweiler. Du ödest mich an.»

«Die Firma…»

«Die Firma? I couldn‘t care less.»

«Und Gabi?»

«Die kommt mit mir.»

Er will sie festhalten. Sie schütteln. Doch ihre Gestalt löst sich auf. Er versucht, ihr nachzurennen, den Arm ausgestreckt. Seine Füße, bleischwer, kleben am Boden. Helen verschwindet im Nebel. Aus der Ferne ihr höhnisches Lachen.

Dann der Rand einer feuchten Wiese. Er macht Dehnübungen. Lockert seine Muskeln. Und sieht den Bärlauch im Gras. Bärlauch, denkt er, ich könnte Bärlauch sammeln. Helen hat mein Pesto immer geliebt. Wie hatte sie am Anfang ihrer Beziehung seine Kochkünste gelobt, sein Essen genossen. Er würde am Abend ein Menü zaubern. Als Friedensangebot. Vielleicht könnte er Helen…

Er bückt sich, riecht an der Pflanze und wie ein Schlag durchzuckt es ihn. Das ist kein Bärlauch. Vor ihm stechen die spitzen, elliptischen Blätter der Herbstzeitlosen aus dem Boden. Kein Knoblauchgeruch. Er bückt sich, schiebt den Ärmelstoff seines langarmigen T-Shirts über die Hände. Rupft ein paar Blätter ab. Unglaublich, wie ähnlich sie den Bärlauchblättern sehen.

Heinrich schreckt auf. Eine Schwester ist ins Zimmer gekommen. Sie bringt ein Thermometer, fühlt seinen Puls, legt eine Blutdruckmanschette an.

»Ihr Blutdruck ist zu hoch, der Puls viel zu schnell, sagte sie. »Ich werde mit dem Arzt sprechen. Er wird Ihnen einen Betablocker geben«

Nein, will Heinrich sagen. Ich hatte nur einen schlimmen Traum. Aber sie war schon wieder draußen.

Was hatte ihn bloß getrieben, die Blätter mit nach Hause zu nehmen, kleinzuschneiden und neben den gemischten Salat zu stellen?

Und als Helen sein aufwendig bereitetes Menü mit kalter Stimme ablehnte und sagte, sie habe keine Zeit, sie müsse zu einer Vorstandssitzung im Kunstverein, wolle nur Salat und Brot, da hatte er die Herbstzeitlose unter den Salat gemischt. Reflexhaft, ohne nachzudenken.

Ein bisschen bitter sei die Vinaigrette, hatte Helen nach ein paar Bissen gesagt, aber hungrig eine größere Portion Salat in sich hineingestopft.

Und dann war alles sehr schnell gegangen. Das Brennen begann im Mund. Schluckbeschwerden. Helen wurde übel. Ihre Gedärme revoltierten. Sie krümmte sich vor Schmerz. Bekam keine Luft. Der herbeigerufene Notarzt ließ sie ins Krankenhaus einweisen. Am nächsten Morgen war sie tot. Atemlähmung. Kreislaufversagen.

»Lebensmittelvergiftung«, stellte der diensthabende Arzt fest. Reste von den Blättern der Herbstzeitlosen waren im Mageninhalt anlysiert worden. Schulterzucken bei den Medizinern. Im Frühjahr gab es immer wieder Verwechslungen. Warum kauften die Leute ihren Bärlauch nicht einfach auf dem Markt?

Er habe sie gebeten, den Salat stehen zu lassen. Ihm habe er auch nicht geschmeckt, ein Tick zu bitter, sagte Heinrich der Polizei, die bei solch plötzlichen Todesfällen vom Krankenhaus hinzugezogen wird. Und schlecht gehe es ihm auch. Magenkrämpfe und Blutdruckabfall.

Auf ihn fiel nicht der geringste Verdacht, leichenblass wie er war, an der Grenze zum Zusammenbruch. Die Ärzte hatten ihn an einen Tropf gehängt.

Von Helens Trennungsabsichten wusste niemand. Gabi war auf Klassenfahrt.

In den nächsten Tagen versenkt sich Heinrich in den Faust. Ist gegen seinen Willen fasziniert und kämpft sich durch die schwierige Sprache. Fausts Strategie, Gretchens Mutter loszuwerden, lässt sein Herz rasen.

Hier ist ein Fläschchen! Drei Tropfen nur

In ihren Trank umhüllen

Mit tiefem Schlaf gefällig die Natur.

Wäre Helen bloß auf sein Versöhnungsangebot eingegangen. Hätte sie sich doch die Zeit genommen, mit ihm zu essen, mit ihm zu reden. Die Blätter der Herbstzeitlosen wären unbemerkt im Abfall gelandet.

Hatte auch er dem Teufel seine Seele verkauft? So ein Unsinn. Er ist Naturwissenschaftler. In seinem Universum gibt es weder Gott noch Teufel. Nichts, was die Welt im Innersten zusammmenhält. Sein Leben liegt in Trümmern, aber er ist stark, er wird die Scherben zusammenkehren, sein Leben neu zusammensetzen. Auf ihn fällt nicht der Schatten eines Verdachtes.

In der folgenden Nacht wird ihn Helens im Todeskampf verzerrtes Gesicht, ihr flehendes «Heinrich, Heinrich!» aus dem Schlaf schrecken. Er wird in die Dunkelheit starren. Hinter ihm die flackende Notleuchte.


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One Response to “Der Fall”

  1. Gravatar of Edeltraut Edeltraut
    22. Januar 2013 at 12:51

    Hallo Anne,
    endlich komme ich dazu, mal in den Blog zu schauen.Finde die Geschichte spannend und gut.Ein paar Kleinigkeiten: Im 3. Abschnitt gefällt mir „angeln“ nicht so gut, ev.“herausnehmen“?
    Mit lieben Grüßen

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