Heiliger Antonius
Côte de Granit Rose, ein kleiner Hafen südlich von Trégastel. Nach der Wanderung auf dem Sentier de Douaniers von Perros Guirec nach Trégastel hielten wir Ausschau nach den Sonnenschirmen einer bretonischen Hafenkneipe. Wir liefen am Quai entlang, begutachteten die vor sich hindümpelnden Yachten und widerstanden der Versuchung, uns einfach auf die Hafenmauer zu setzen. Der Hunger war zu groß. Das kühle Bier lockte und eine große Portion moules frites.
Wir schlenderten an einer einsamen Holzbank vorbei, den Blick sehnsüchtig auf die roten und blauen Schirme am anderen Ende der Bucht gerichtet, als mein Gehirn ein plötzliches »Stopp« signalisierte. Irgendetwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Ich drehte mich um, ging ein paar Schritte zurück, bückte mich unter die Bank und griff nach einem schmalen, braunen Lederetui, zog den Reißverschluss auf und hielt eine handliche Lumix-Reisekamera in der Hand. Mit schnellen Schritten war mein Mann neben mir und entriss mir die Kamera.
»Geil«, sagte er. »Die wollte ich schon immer haben.«
Vielleicht muss ich an dieser Stelle einfügen, dass er in den ersten Urlaubstagen seine teure Spiegelreflexkamera hatte fallen lassen, nichts funktionierte mehr. Nichts. Alle Bilder waren unscharf. Ein heftiger Schlag, direkt zu Ferienanfang. Und nun diese Gelegenheit: eine Lumix. Ein Traum. Vom Himmel gefallen.
Aber genau das war das Problem: vom Himmel gefallen.
»Das geht nicht«, sagte ich. »Diese Kamera gehört dir nicht. Sie ist jemandem unter die Bank gerutscht.«
»Pech gehabt«, sagte mein Mann.
»Du kannst doch nicht einfach … «, sagte ich.
»Doch! Kann ich!«, sagte mein Mann »Würde jeder andere auch tun.«
»Wir können die Jungs drüben am Boot fragen«, sagte ich. »Vielleicht haben die sie verloren.«
»Quatsch«, sagte mein Mann. »Viel zu teuer für so Schnösel!«
Ich war schon halb aufgestanden, um zu den jungen Männern zu gehen, die dabei waren, ihr Boot startklar zu machen, als ein Peugeot direkt hinter uns hielt. Ein älteres Ehepaar kletterte heraus, gefolgt von einer kläffenden scharz-weißen Promenadenmischung. Die Frau kam auf uns zu, sagte auf Französisch, dass sie ihre Kamera liegengelassen habe.
»Avez-vous trouvé ma caméra?«
»Haben wir«, sagte mein Mann freundlich und reichte ihr die Lumix.
»Merci beaucoup«, sagte die Frau, stieg in den Wagen, winkte und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
»Punkte im Himmel«, sagte ich, denn ich bin pietistisch erzogen und glaube irgendwie immer noch, dass der liebe Gott alles sieht, das Böse bestraft und das Gute belohnt. Mein Mann lachte und schaute auf die Bucht. Die Flut hatte eingesetzt, umspülte die trocken gefallenen Yachten am Ufer mit kleinen, rippelnden Wellen.
»Hast du mein iPhone?, fragte er plötzlich und kramte hektisch in seinem Rucksack. »Ich kann es nicht finden.«
»Nun mal mit der Ruhe«, sagte ich. »Guck mal in allen deinen Taschen nach.«
Mein Mann drehte die Hosentaschen nach außen, wendete seine Weste auf links. Nichts! Ich räumte den Rucksack aus, öffnete die Reißverschlüsse der Innentaschen. Wieder nichts.
»Mist«, schrie mein Mann. »Ich habe das iPhone auf der Mauer am Strand liegengelassen. Hätte ich bloß die Kamera behalten!«
»Nun mal mit der Ruhe. Wir gehen zurück.«
Auf der Steinmauer an der Badebucht saß ein junges Pärchen und unterhielt sich angeregt.
»Excusez-moi, avez- vous … ?«
»We speak English«, sagte der Mann.
Schon besser. Wir erklärten das Problem, gingen gemeinsam an der Mauer entlang, suchten im Sand. Nichts.
»Why don`t you call your phone?«, schlug die junge Frau vor.
Na klar, da hätten wir auch selbst drauf kommen können. Ich zückte mein Handy und tatsächlich, auf der anderen Seite nahm jemand ab, redete unverständliches, schnelles Französisch. Ich stotterte einen vorher auswendig gelernten Satz herunter, dass wir unser iPhone verloren hätten und so.
Der Mann am anderen Ende lachte.
»Je lái trouvé! Venez ici! «
Das war doch schon mal was. Aber wie sollten wir an das Gerät kommen?
»Vous êtes où, monsieur?«
Wieder eine unverständliche Antwort.
»Pouvez-vous répéter? Doucement, s`ìl vous plaît!«
Der Teilnehmer am anderen Ende wiederholte deutlich und langsam, dass er in einer Eisdiele nicht weit entfernt vom Fundort sitze. Wir sollten den Sentier de Douaniers zwei, drei Kilometer in Richtung Perros-Guirec zurückgehen bis zur Terrasse am nächsten Badestrand.
»Merci, monsieur. Merci!«
Eine halbe Stunde später standen wir auf der beschriebenen Terrasse. Eine Schrecksekunde. Niemand wartete auf uns, niemand hielt ein Handy in die Höhe. Wir wählten noch einmal die Nummer unseres iPhones. Ein rundlicher, kleiner Herr kam mit breitem Grinsen auf uns zu. Schwenkte das Telefon. Mein Mann bedankte sich überschwänglich, zückte sein Portemonnaie, zerrte 50 Euros heraus. Finderlohn. Der Franzose winkte ab.
»Au revoir, madame et monsieur. Bonnes vacances!«
»Da haben wir Glück gehabt«, sagte mein Mann.
»Unsinn! Glück! Das ist die Belohnung, dass du vorhin die Kamera wieder abgegeben hast. Der liebe Gott sieht alles.«
Mein Mann starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Du glaubst doch wohl nicht … !«
»Doch!«
Langsam wanderten wir den Küstenpfad zurück. An dem Kirchlein am Wegesrand blieb mein Mann plötzlich stehen. Sie war hübsch, diese bretonische Kapelle, aus rötlichen Feldsteinen gemauert, umwuchert von blauen und weißen Hortensien. Im niedrigen, quadratischen Turm bimmelte eine Glocke und rief zum Gebet. Graue Granitplatten führten zur hölzernen Eingangspforte. Mein Mann drückte die Klinke hinunter, die Tür war nicht abgeschlossen, sie öffnete sich ächzend. Dunkel war das Innere der Kirche, nur das ovale, vergitterte Fenster über dem Altar ließ diffuses Licht hinein. Ein Holzkreuz hing unter dem Fenster. Ein Fresko mit Maria und dem Kind war an der Seitenwand nur zu ahnen. Wir setzten uns auf eine der harten Holzbänke. Dann sahen wir ihn. Die kleine geschnitzte Figur vom heiligen Antonius streckte die Hand aus. Ausgerechnet der heilige Antonius, der Heilige, der seit Jahrhunderten angefleht wurde, verloren gegangene Dinge wiederzufinden. Mein Mann erhob sich langsam, kramte wieder seine Börse hervor, nahm den zusammengefalteten 50-Euro-Schein, stopfte ihn in den Schlitz des Opferstockes.
Ich muss zugeben, ich freute mich.
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