Zweiundvierzig Kilometer
Doris schiebt ihr Mountainbike auf die Straße. Es ist trocken, nicht zu kalt, ein paar Wolken ziehen träge über den mattblauen Himmel, verdecken immer wieder die Märzsonne.
Eigentlich würde ich lieber joggen, denkt Doris, meinen Gedanken nachhängen, nach einer halben Stunde oder so in diesen Flow kommen, so dass die Beine automatisch ihren Rhythmus beibehalten, der Körper schwitzt und der Kopf immer freier wird.
Aber joggen – das war einmal. Leider! Dem Rat des Orthopäden folgend hat sie schon vor einem Jahr Joggen gegen Walken eingetauscht, obwohl sie die Stöcke immer albern fand. »Die Reha-Klinik macht einen Ausflug«, hatte Bertram gelästert, wenn sie zu den Gehhilfen griff. Ja, Bertram … , dass es so schnell gehen würde, hatte sie sich auch nicht vorgestellt. Noch so viele Pläne, und dann lag er eines Morgens tot im Bett. Plötzlicher Herzstillstand.
»Gönnen Sie es ihrem Mann«, hatte der Notarzt gesagt.«Er hat nicht gelitten.«
Aber sie. Sie hat gelitten, tierisch gelitten. Doris setzt den Helm auf. Das Leben geht weiter, so sagt man doch, ein dummer Spruch. Mit Anstrengung hebt sie das rechte Bein, hievt es über die schrägstehende Stange. Was hatte der Typ neulich am Melkhus gesagt, der stocksteif stehengeblieben war und sie und ihr Rad angestarrt hatte. Dann hatte er gegrinst: »Verzeihung, ich wollte nur sehen, wie Sie es anstellen, auf das Rad zu steigen.«. Blöder Kerl! Halt 20 Jahre jünger als sie.
Doris fährt langsam durch die Fußgängerzone, darauf bedacht, keinen der mit Taschen und Körben bepackten Passanten zu erschrecken. Immer wieder stoppt sie ab, stellt ein Bein auf den Boden, wartet, muss sich aber trotzdem von einem brummigen Rentner anmachen lassen. »He, Sie, hier ist Radfahren verboten. Können Sie nicht lesen?« Er hat ja Recht, das weiß sie, aber das Gehen macht ihr in der letzten Zeit wirklich Probleme. Sie muss wohl doch in den sauren Apfel beißen und eine Knie-OP wagen.
Doris biegt in die Weserstraße ab, rumpelt über das Kopfsteinpflaster, macht einen Bogen um ein ausparkendes Auto. Schön sehen die alten Kapitänshäuser aus, die Backsteinvillen aus der Gründerzeit, die prächtigen Bauten der reichen Handelsherren mit den kunstvoll verzierten Holzdecken und den Gemäldegalerien in den hochherrschaftlichen Treppenhäusern. Symbole von Geld und Macht genau hier an der Weserkante mit dem Blick auf den grau-blauen Fluss und seiner heftigen Strömung. Ablaufend Wasser, denkt Doris und blickt auf die Uhr. Einsetzende Ebbe.
Eine Schande war es, das alte Ortsamt zu verkaufen mit seinen Vorbauten und Türmchen und der großen Terrasse zur Weser hin, auf der die Brautleute ihre Gäste zum Sekt einluden. Wie Bertram und sie vor fast vierzig Jahren. War das ein lustiges Fest! Jetzt bloß nicht wieder wehmütig werden, sagt sie sich und zieht das Tempo an, muss aber dem entgegenkommenden BMW ausweichen, der viel zu schnell die Straße hinaufröhrt. Idiot, aber der kann wohl nicht anders. Potenzprobleme, hätte Bertram gesagt und den Stinkefinger gezeigt.
Doris fährt hinunter zur Weser-Promenade, entlang an den Kugelahornbäumchen, die in Reih und Glied wie trainierte Soldaten den Radweg säumen. Die Weserfähre legt ab, quietschend und schabend wird die Rampe hochgezogen. Das Schiff tanzt ein kurzes Ballett auf den Wellen, muss das Containerschiff vorbeiziehen lassen, das sich mit der Strömung Richtung Nordsee bewegt. Wasser, Schiffe, Wolken. Die trüben Gedanken verfliegen, sie zieht die frische Luft tief in die Lungen, fühlt den Hauch von Salz auf den Lippen, leckt mit der Zunge darüber. Wer wohnt schon so schön wie sie? Im Radfahrerland, so nah am Wasser. Ein kurzer Blick auf die weiße Yacht vor der Lürssen-Werft. Welcher Ölscheich lässt hier bauen, ein Schiff größer als das seiner Konkurrenten? Oder gehört die Yacht einem der erfolgreichen IT-Jungs, die auch zeigen müssen, wie reich sie sind? Doris zuckt die Achseln und guckt ein bisschen neidisch auf die kleine Segelyacht, die die Strömung nutzend aus der Lesum tuckert und die Segel setzt. Nur Mann und Frau an Bord. Werden ganz schön kreuzen müssen, denkt sie und beobachtet das Auf und Ab des Schiffsrumpfes auf den Wellen. Bertram hat sie immer an die Pinne gelassen, wenn ihr von dem Geschaukel übel wurde. Bertram, wie fürsorglich du warst!
Sie fährt über die stählerne Hebebrücke in der Einfahrt zum Vegesacker Hafen, vorsichtig, um auf dem glatten Metall nicht zu rutschen. Wie vor ein paar Jahren die Freundin, die sich beide Handflächen übel aufgeratscht hat. Radfahrer absteigen, steht ja auch auf dem Schild. Wer nicht hören will, muss fühlen. Wieder so ein Kommentar eines schlechtgelaunten Besserwissers.
An dem immer mehr zur leerstehenden Ruine verkommenden Einkaufszentrum – auch so ein Schildbürgerstreich der Bremer Landesregierung – tritt Doris heftiger in die Pedalen, radelt am Segelschulschiff »Deutschland« und den »Vier Deichgrafen« vorbei, nimmt keuchend die Steigung zwischen Schule und Lürssens Gästehaus, klingelt einen Mann mit zwei Riesenhunden beiseite, als sie zum Grohner Hafen hinunterrollt. Böse Blicke folgen ihr. Dabei ist hier Leinenzwang! Nur hält sich keiner mehr daran. Übers Wehr und auf der gut asphaltierten Straße nach Nordwest zur »Moorlosen Kirche«. Der Wind kommt seitwärts, der Belag ist gut, das Rad rollt und rollt, sie schaltet in den höheren Gang.
Ein Kaffee in der Kneipe an der alten Backsteinkirche. Mit dem Becher in der Hand geht sie hinunter auf die Wiese, die zur Weser führt. Bänke sind dort aufgestellt, sie lässt sich nieder, hält das Gesicht in die Sonne. Es riecht nach Frühling. Endlich. Wie oft haben sie und Bertram … Lass es! Lass es einfach! Versuche den Tag so zu genießen, wie er ist.
Dann durch den engen, matschigen Waldweg quer durchs Naturschutzgebiet. Nun freut sie sich, dass sie nicht der Versuchung nachgegeben hat, das Rennrad zu nehmen. Gestern noch hat es heftig geregnet, der Boden ist feucht und weich, mit den schmalen Rennradreifen würde sie schliddern. Die breiteren Stollen des Mountainbikes bohren sich tief ein, brechen nicht aus der Spur, gnatschend und schmatzend fährt sie durch den Schlamm. Vereinzelte Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken, malen Kringel auf dem braun-grünen Boden. Modrige Pilze vom Vorjahr im Unterholz.
Eigentlich bin ich doch noch gut in Form, denkt Doris. Oma auf dem Mountainbike, zusammen mit den Enkeljungs. Wer kann das noch? Wer nicht alt werden will, muss früh sterben, das pflegte doch schon ihre Großmutter zu sagen, die dicke, lebenslustige Frau mit ihren Sprüchen »aus der kalten Heimat.« Recht hatte sie.
Doris kommt wieder ins Freie. Der Blick geht über die nassen Wiesen, ein stabiler Holzsteg führt an einem modrigen Wasserarm entlang. Ein Fischreiher erhebt sich mit elegantem Flügelschlag in die Luft, einen silbrigen Fisch im Schnabel. Quakende Enten auf dem kleinen Teich, unappetitliche Entengrütze, hektisch hin- und herschwirrende Insekten. Eine vereinzelte blau-grüne Libelle hovert über dem Blatt einer Seerose. Ende des Naturschutzgebietes. Die Wege sind wieder gut befestigt. Doris tritt in die Pedalen, fährt am Golfplatz vorbei zur Deichstraße und dann im Stehen die steile Auffahrt hoch auf den Lesumdeich. Reetgras bewegt sich im Wind. Braun und morastig wird das Wasser der Lesum Richtung Weser und offene See gezogen. Ein Achter mit Steuermann nutzt das ablaufende Wasser, macht schnelle Fahrt Richtung Bootshaus. Das rhythmische Rufen des Steuermanns, das akkurate Eintauchen der Paddel. Eine Yacht mit gelegtem Mast gleitet mit tuckerndem Diesel in Richtung Wehr. Die Brücke muss nicht gehoben werden, das Boot gleitet zwischen den Pfeilern hindurch.
Eigentlich reicht es für heute, denkt Doris. Sie schaut auf den Tacho. Erst 30 Kilometer. 42 Kilometer hat sie sich vorgenommen, Marathonstrecke. Das anhaltende Winterwetter der letzten Monate hat sie aus dem Training gebracht. Zu wenig Kondition. Sie fährt weiter, kämpft gegen den inneren Schweinehund. Inzwischen ist es trocken und warm, die Sonne scheint – und zu Hause wartet niemand auf sie. Sie besiegt auch den letzten Anflug von Selbstmitleid. Fährt und fährt.
Im Kunstcafé Kränholm wird sie sich einen Milchkaffee gönnen und ein Stück von dem ausgezeichneten Käsekuchen. Sie wird draußen im Garten sitzen und dem Flöten der Amseln im Park lauschen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass – verführt von dem frühlingshaften Wetter – auch eine ihrer Freundinnen im Café auftaucht.
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