Du sollst kein falsch Zeugnis reden

Zugegeben, der Stadtteil ist sozial belastet, wie es im Amtsdeutsch heißt.
Frau Kowalczyk hat in den letzten vierzig Jahren in einem Sechsfamilienhaus gewohnt, in dem mittlerweile die meisten Wohnungen vom Sozialamt bezahlt werden. Einige deutsche Mieter sind schnellstens ausgezogen, als sie sich eine andere Wohnung leisten konnten, aber Frau Kowalczyk gefällt es in dem bunten Stadtteil mit den vielen Einkaufsmöglichkeiten, der guten öffentlichen Anbindung an die Innenstadt, der Nähe zum Fluss. Im Übrigen findet sie sich zu alt, um in einer fremden Umgebung einen Neuanfang zu wagen. Sie ist kommunikativ und freundlich, kommt gut mit den anderen Mietern aus, auch wenn sie sich manchmal wünscht, das Treppenhaus würde gründlicher geputzt und die Haustür nachts zuverlässig abgeschlossen werden.

Im unteren Geschoss wohnt Herr Markward, ein brummiger Frührentner, der meint, eine Art Hausmeisterfunktion erfüllen zu müssen. Frau Kowalczyk findet es gar nicht so schlecht, dass sich einer ein bisschen um Ordnung kümmert. Der Mann hat es ja nicht leicht, ist verwitwet und teilt sich mit seinem arbeitslosen erwachsenen Sohn die Wohnung. Ein bisschen viel Alkohol wird in letzter Zeit dort unten getrunken, vermutet Frau Kowalczyk, wenn abends die Stimmen laut werden und die Streitereien von Vater und Sohn durch die Decke nach oben dringen, egal wie laut sie den Fernseher stellt.
Was ihr noch weniger gefällt, sind die dummen Sprüche, die die beiden Markwards immer häufiger in Bezug auf die anderen Mieter loslassen. Im Parterre wohnt noch ein junges Paar aus Anatolien mit seinen drei Kindern – passen Sie auf, das werden mehr, die hecken wie die Karnickel! – sagt Markward senior und Junior grinst, aber sie kontert, sollen wir in Deutschland denn total vergreisen und wer bezahlt dann die Renten? Markward grummelt Unverständliches und verschwindet mit seinem Sohn in der Wohnung.
Die beiden Männer in der Wohnung über ihr, Abdullah und Jussuf, kommen aus Syrien.  Sie sind nett und hilfsbereit, grüßen höflich, nehmen ihr auf der Treppe die schweren Einkaufsbeutel aus der Hand, bieten ihr an, im Auto mitzufahren, wenn sie an der Bushaltestelle steht. Natürlich macht Herr Markward blöde Witze, aber die beiden jungen Männer grüßen und ignorieren ihn dann einfach, was ihn wütend macht, wie Frau Kowalczyk beobachtet. Tagsüber sind sie selten da. Sie haben ihr erzählt, dass sie morgens einen Deutsch-Intensivkurs besuchen, nachmittags bei einem Cousin im Obst- und Gemüsegeschäft arbeiten und natürlich von einem regulären Arbeitsplatz in Deutschland träumen. Verständlich, findet Frau Kowalczyk, die ihnen in der Anfangszeit mit alten Möbeln geholfen hat und mit Küchenutensilien, denn die Wohnung war total leer, als die beiden Männer aus dem Containerdorf hierher zogen.
Die stille, junge Frau in der Wohnung nebenan fährt jedes Wochenende zu ihrem Freund nach Hamburg. Die bleibt sicher nicht lange hier wohnen, denkt Frau Kowalczyk.
Der letzte Neuzuzug ist ihr allerdings ein wenig unheimlich. Ein finster blickender, bulliger Mann in den Dreißigern mit schwarzem, zotteligen Bart und einem Käppi auf dem Kopf, das er nie abzunehmen scheint. Der rennt jeden Tag in die Moschee, weiß Herr Markward. Der soll aus dem Kosovo kommen, ein Kosovo-Albaner. Hat bestimmt schon im Knast gesessen, ist auf jeden Fall ein Krimineller: Nicht arbeiten, Stütze kassieren, Tankstelle überfallen. In dieser Reihenfolge, sagt Herr Markward. Sympathisch findet Frau Kowalczyk ihn auch nicht. Und dessen Freunde, die ihn abends besuchen und oft die ganze Nacht in ihrer unverständlichen Sprache palavern, die sind ihr auch nicht geheuer. Wäre schön, der zöge aus, das sagt sie aber nicht laut.
Sollte sie sich vielleicht doch nach einer neuen Wohnung umsehen oder gleich in Betreutes Wohnen ziehen? Aber dafür ist es eigentlich noch zu früh, findet sie. Was sie aber eines Abends im Hausflur erleben muss, lässt dann doch den Entschluss in ihr reifen, über eine neue Bleibe nachzudenken.

Es dämmert bereits und Frau Kowalczyk kommt von dem wöchentlichen Gesprächskreis im Gemeindezentrum nach Hause, müde, aber wohlgemut. Die Gespräche haben ihr gutgetan, der Kaffe war stark und reichlich, und jede der Frauen hatte etwas zum Kuchenbuffet beigetragen. Vor der Haustür trifft sie Abdullah und Jussuf, die ihr einen guten Abend wünschen und die Tür aufhalten. Gleichzeitig fliegt bei Markwards die Tür auf. Markward Junior torkelt auf den Hausflur, gefolgt von seinem Vater, der einen Holzscheit in der Hand hält und schreit, ich habe genug von dir, es reicht, verschwinde, du Versager, von mir kriegst du keinen Pfennig mehr!
Der junge Mann fällt direkt in die Syrer hinein, und dann eskaliert die Situation in einem Maße, die Frau Kowalczyk fassungslos macht. Abdullah packt den jungen Mann am Arm und versucht, ihn wieder aufzurichten. Lass deine dreckigen Pfoten von meinem Sohn, du schwule Sau, schreit der alte Markward und stürzt sich auf Abdullah, der von diesem Angriff überrascht zu Boden geht. Haut dahin ab, wo ihr herkommt. Wir brauchen euch nicht! Eine Messerklinge blitzt auf. Markward Senior schreit, ein Schwall Blut spritzt auf den Boden. Markward fasst sich an die Kehle, röchelt und sackt zusammen.
Der Kosovo-Albaner ruft den Notarzt. Keiner hat ihn kommen hören. Er ist es auch, der das Messer aufnimmt, abwischt und sorgfältig auf die Treppe legt. Ehe die Polizei kommt, ist er verschwunden.
Frau Kowalczyk gibt zu Protokoll, dass sie den ganzen Zwischenfall beobachtet hat. Herr Markward habe den Streit angefangen. Wem das Springmesser gehöre, wisse sie nicht. Abdullah, Jussuf, dem Albaner, dem jungen Markward?

Der Vernehmungsrichter verzweifelt an der Zeugenaussage der alten Dame. Es sei weder hell noch dunkel im Treppenhaus gewesen. Der junge Markward sei gestolpert. Wer angefangen habe? Vielleicht der alte Markward. Der hätte seinen Sohn schlagen wollen. Ja, und der eine Syrer habe … nee, doch nicht, der andere sei auch gefallen. Welcher denn nun? Herrje, beide, glaube sie. Und das Messer? Das wisse sie nicht. Es sei abgewischt worden, keine Fingerabdrücke. Na so was, von wem denn? Das frage ich Sie, verehrte Frau Kowalzczyk. Der Richter versucht, ruhig zu bleiben. Aber einer habe doch den Notarzt gerufen. Ja, ja, der Kosovo-Albaner sei das gewesen. Welcher Kosovo-Albaner? Na, der Mieter von oben. Den haben Sie nie erwähnt, gnädige Frau. Den habe sie auch nicht richtig wahrgenommen. Vielleicht war er auch nicht richtig da. Wie, nicht richtig da? War er da oder nicht? Das wisse sie nicht genau. Der habe nichts gesagt. Aber telefoniert hat er, sagt der Richter. Ach, hat er?, fragt Frau Kowlczyk. Ja, er hat doch den Notarzt gerufen. Das war doch gut, Herr Richter, oder? Wo jener Kosovo-Albaner denn plötzlich hergekommen sei? Das wisse sie auch nicht. Der Richter blickt sie an und senkt die Stimme. Haben Sie Angst, Frau Kowalczyk? Werden Sie bedroht? Frau Kowalczyk schüttelt den Kopf. Wen wollen Sie decken? Sie haben doch alles gesehen.
Hat sie das wirklich? Alles gesehen? Frau Kowalczyk hat einen Verdacht. Einen begründeten Verdacht. Mehr nicht. Und dass sie schweigt, belastete ihr Gewissen in keinster Weise. Schließlich ist sie eine fromme Frau. Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, so steht es schon in der Bibel. Und ihre Bibel, die kennt sie gut, die Frau Kowalczyk.


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